Andreas Weil
Der komponierende Organist um 1700
Studien zu Toccata und Fuge d-Moll BWV 565 von Johann Sebastian Bach
Die Diskussion um Originalität und Autorschaft von Toccata und Fuge BWV 565, der wohl berühmtesten Orgelkomposition der Musikgeschichte, ist alt und hatte bereits im Jahr 1998 mit der umstrittenen Publikation von Rolf Dietrich Claus (Zur Echtheit von Toccata und Fuge d-Moll BWV 565) ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht, riss aber auch danach nicht ab. Im Mittelpunkt steht seit Jahrzehnten schon immer die Frage, inwiefern die Komposition überhaupt eine genuine Orgelkomposition sei oder nicht doch ursprünglich etwa für Violine konzipiert; darüber hinaus geht es um die Zuschreibung an Johann Sebastian Bach, die vielfach bezweifelt wurde.
Andreas Weil geht in seiner Studie einen grundsätzlich anderen Weg als die meisten Skeptiker – und sein Ergebnis ist sehr überzeugend: Er versucht, eine Analysemethode auf der Basis der zeitgenössischen Musiktheorie zu entwickeln, um strittige Fragen zu Johann Sebastian Bachs Frühwerk quasi neutral klären zu können. Die von Weil herangezogenen Lehrwerke – insbesondere von Andreas Werckmeister, Johann Gottfried Walther und Johann Mattheson – geben Aufschluss über die Unterrichtspraxis für angehende Organisten um 1700 und vermitteln mehr als nur theoretische Grundlagen, etwa in den Bereichen Generalbass, Kontrapunkt und Variation: Es geht immer auch um kompositorisches Rüstzeug, das sich unmittelbar in den Kompositionen der Zeit spiegelt.
Mit seinem Analyseansatz kann Weil die bislang eher gebräuchliche Methode des „musikalischen Instinkts“ in der Stilkritik aushebeln und auf der Basis musiktheoretischer Fakten das Frühwerk Bachs – insbesondere etwa die Sammlung der Sätze aus der „Neumeister-Sammlung“ oder BWV 534 – analytisch angemessen untersuchen, letztlich aber auch die Unterstellung, Toccata und Fuge in d-Moll stammten nicht von Bach und seien auch gar keine Orgelkompositionen, deutlich zurückweisen.
Man mag den Autor dafür kritisieren, dass er für den Abschnitt seiner Studie, der dem Bereich der Arbeit mit Satzmodellen gewidmet ist, nicht die jüngste musiktheoretische Forschungsliteratur herangezogen hat (und daher sein Gebrauch musiktheoretischer Fachterminologie nicht überall stichhaltig ist): verstanden hat Andreas Weil es allzumal, auf der Basis von historischen Lehrwerken einerseits und dem Werkrepertoire andererseits einen methodischen Ansatz aufzuzeigen, wie künftig mithilfe einer historisch-kritischen Analyse Musik eingeordnet werden kann – als „common practice“ oder eben (wie in diesem Fall) weit darüber hinausgehend.
Abgesehen von den überzeugenden Ergebnissen ist das Buch mit vielen Notenbeispielen sinnvoll illustriert und überhaupt sehr gut gemacht – in Zeiten der um sich greifenden Sparsamkeit keine Kleinigkeit.
Birger Petersen