Johann Sebastian Bach

Das Wohltemperierte Clavier I

Jan Doležel an der Brandenstein-Orgel von 1721 in Obereisenheim

Verlag/Label: 2 CDs, MusikLabel Dolezel (2021)
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2022/04 , Seite 61

Bewertung: 4 von 5 Pfeifen

Das Wohltemperierte Clavier ist das einzige Opus des Thomaskantors, das nach dessen Tod niemals in Vergessenheit geriet. In der Wiener Klassik fand es weite Verbreitung und wurde zur Klavierschule für Generationen von Schülern, bis heute. Dabei wurden diese Pretiosen nicht selten als Einspielstücke missbraucht und mit aberwitzigen Geschwindigkeitsrekorden geistlos heruntergerasselt. Aufnahmen gibt es zuhauf, besonders solche auf besaiteten Tasteninstrumenten. Dabei gewinnt diese Musik gerade auf der Orgel mit vielerlei Klangfarben an dramaturgischer Tiefe.
Jan Doležel überrascht mit einem Doppelalbum des ersten Zyklus auf einer kleineren Barockorgel. Der Organist, übrigens auch ein namhafter Reger-Interpret, erweist sich als in barocker Rhetorik höchst kenntnisreicher Künstler mit musikantischem Zugriff, der die diffizilen Pieces wirkungsvoll zum Sprechen bringt. Stolz verweist er auf seine Herkunft aus der Würzburger Musikhochschule um Christoph Bossert, an der Orgelmusik und Orgelbau Süddeutschlands innovativ im Mittelpunkt stehen; im Gegensatz etwa zur Münchener Musikhochschule, wo süddeutsche Orgelmusik stiefmütterlich als „Blattspielware“ abgetan wurde. Entsprechend lieblos wurden barocke Orgeln in Bayern „renoviert“, so dass gute Restaurierungen einsame Ausnahmen geblieben sind.
Deshalb sollten sich Orgelfreunde den kleinen Ort Obereisenheim bei Würzburg merken. Die dortige Barockorgel (I/11) datiert aus dem Jahr 1721 und wurde – wie so oft – vielfach umgebaut. Dennoch ist der Barockbestand weitgehend erhalten. 2005 wurde sie von Thomas Jann (Orgelrestaurator: Frank Schüngel) aufwendig restauriert, wenngleich die rekonstruierte Spielkonsole eine eher neobarocke Anmutung ausstrahlt. Leider wurde die ursprüngliche Balganlage aus Kostengründen nicht rekonstruiert; dies sollte dringend nachgeholt werden, da die Winderzeugung unmittelbar auf den Klang einwirkt. Adam Brandenstein ist hypothetisch und auch dadurch erschwert, dass keine weiteren Orgeln vom älteren Brandenstein mehr existieren. Daher erscheint die Selbstverständlichkeit, mit der hier von einer Brandenstein-Orgel gesprochen wird, zumindest fragwürdig. Die heutige Disposition ist ein Kompromiss zwischen dem mutmaßlich barocken und dem gewachsenen Zustand, entspricht jedoch keinem Stadium aus der Geschichte des Instruments. Solche „Geschichtsklitterung“ erstaunt angesichts des rigiden Dogmatismus der bayerischen Orgeldenkmalpflege, führte in diesem Fall aber zu einem dem Original nahekommenden Klangergebnis, das aufhorchen lässt.
Ein aparter Reiz resultiert aus der Mischfähigkeit der Grundstimmen, hier besonders der sonore Principal und als Highlight eine singende Gambe. Beide Register wurden erst später in die Orgel eingebaut. Der intime Gambenklang mit seinem ungedämpften Obertonspektrum kommt dem barocken Saiteninstrument verblüffend nahe und unterscheidet sich diametral von sägenden Gambenregistern der Romantik. Für süddeutsche Barockorgeln war dieser mystische Gambenklang konstituierend und weit verbreitet, heute findet man ihn nur noch in Maihingen, Frauenzell und Obereisenheim.
Das mit wenigen Schwarzweiß-Fotos optisch etwas trist ausgefallene Booklet bietet neue Sichtweisen auf das Wohltemperierte Clavier. Hier fanden Musik, Orgel und Interpret in überzeugender Weise zueinander.

Otmar Heinz