Bernhard Ruchti
„… das Gewaltigste, was ich je auf der Orgel gehört habe“
Franz Liszts Ad Nos als Tor zur Wiederentdeckung einer verborgenen Aufführungspraxis des 19. Jahrhunderts
Wer sich der Stadt Merseburg von Leipzig kommend auf der B 181 nähert, sieht schon von weitem die Türme des an der Saale gelegenen prächtigen Merseburger Doms. Er wurde in seiner heutigen Form 1517 eingeweiht. 1665 wurde eine neue Orgel eingebaut; vermutlich stammt der atemberaubende Prospekt aus dieser Zeit. Am 26. September 1855 fand im Merseburger Dom mit der Weihe der Orgel von Friedrich Ladegast ein epochales Ereignis statt. Das Instrument war nach den neuen physikalischen Richtlinien von Johann Gottlob Töpfer, dem Weimarer Stadtorganisten, erbaut worden, der auch Lehrer von Alexander Winterberger war und Franz Liszt gut kannte.
Das Buch des Pianisten, Organisten, Komponisten und Musikwissenschaftlers Bernhard Ruchti, „…das Gewaltigste, was ich je auf der Orgel gehört habe“ widmet sich Franz Liszts „Ad nos, ad salutarem undam“ (Zu uns, zum Heil des Wassers). Der Choral der Wiedertäufer entstammt der Oper Le Prophète des von Liszt hochgeschätzten deutschen Komponisten Giacomo Meyerbeer. Ruchti nimmt die Leser mit auf eine Reise zu den Geschehnissen um die Aufführung des Werks. Er berichtet von den aufwendigen Vorbereitungen. Dazu reisten der Meister und sein Schüler mehrfach mit der Eisenbahn von Weimar nach Merseburg. So konnte Liszt seine Vorstellungen unter Ausnutzung aller Möglichkeiten der 81 Register und vier Manuale umsetzen. Die neue Orgel bot unerhörte neue Klänge und Finessen. Nichts sollte dem Zufall überlassen werden. Die Wucht des Stücks und die Virtuosität Winterbergers machten das Ereignis in ganz Europa bekannt.
Der Autor beschreibt den kometenhaften Aufstieg Winterbergers als Organist, dem Liszt sein zweites, für Merseburg komponiertes Orgelwerk, das Praeludium und Fuge über B-A-C-H widmete. Den Typ „Konzertorganist“, wie wir ihn heute kennen, gab es in der Form so noch nicht – wie auch der Typ „Konzertorgel“ erstmals in Merseburg erschaffen wurde. Ruchti geht dabei ausführlich sowohl auf die zeitliche Einordnung als auch auf Interpretationsfragen ein. Er nennt Interpretationen verschiedener Organisten. Die Aufführung in Merseburg soll 1855 bei über 40 Minuten gelegen haben. Die Aufführungsdauer heute reicht von knapp 21 Minuten bis zu 44 Minuten.*
Ruchti zeichnet einen spannenden und sehr lesenswerten Ausschnitt aus einer Zeit, die der Beginn der Entwicklung einer „neuen“ Musik für die Orgel wurde, und gewährt einen umfassenden Blick auf das Zusammenspiel des Komponisten Franz Liszt und „seines“ Interpreten Alexander Winterberger. – Nach der Lektüre des hochinteressanten Buchs empfehle ich allen Fans der romantischen Orgelmusik einen Besuch des Merseburger Doms mit seiner großartigen Ladegast-Orgel.
Frank Lehmann
* Im Oktober 1981 wurde die Schuke-Orgel im großen Saal des „Neuen Gewandhauses zu Leipzig“ eingeweiht. Der Gewandhausorganist Matthias Eisenberg brauchte für sein „Ad nos“ 25 Minuten und 36 Sekunden.