Frescobaldi

Complete Unpublished Works for Harpsichord & Organ

Roberto Loreggian an Cem­bali, an der Zanin-Orgel (1998) von S. Caterina in Treviso und an der Antegnati-Orgel (1565) der Basilica palatina di Santa Barbara in Mantua

Verlag/Label: 6 CDs, Brilliant 96154 (2021)
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2022/02 , Seite 58

Bewertung: 4 von 5 Pfeifen

Girolamo Frescobaldi (1583–1643) gilt als einer der bedeutendsten, wenn nicht sogar als der wichtigste italienische Meister frühbarocker Tastenmusik. Der in Ferrara geborene und erzogene Musiker bekleidete – nach einer ersten Anstellung an Santa Maria in Trastevere und einer längeren Reise nach Brüssel – ab 1608 für einige Zeit das Amt des Organisten der Cappella Giulia der römischen Peterskirche, von 1628 bis 1633 wirkte er an den Höfen von Mantua und Florenz, um schließlich 1634 endgültig Organist von St. Peter in Rom zu werden. In Brüssel lernte Frescobaldi Zeitgenossen wie Peter Philips und Pieter Cornet kennen, während seine eigene musikalische Prägung wohl am ehesten seinen älteren italienischen Zeitgenossen Ercole Pasquini, Claudio Merulo, Giovanni Maria Trabaci und Ascanio Mayone zu verdanken ist.
Frescobaldis reiches Schaffen orientiert sich kaum noch an Textvorlagen (man könnte ihn als einen der allerersten reinen „Clavier-Komponisten“ bezeichnen, ähnlich wie seinen bedeutenden Schüler Johann Jacob Froberger). Es beinhaltet kontrapunktisch formvollendet ausgearbeitete Modelle wie Fantasie, Capricci, Canzoni, Partite, Passacaglie und Ciaccone. Frescobaldis fantasiereiche, bisweilen sogar bizarr anmutende Ausdrucksstärke anhand kühner Affetti lässt ihn geradezu singulär modern erscheinen. Über seine Musik lässt sich im Übrigen Entscheidendes beim Studium seiner publizierten Vorreden zu gedruckten Werken lernen … Aufgrund von Bedeutung und sich verbreitendem Ruhm seines Schaffens wurde er zunehmend zum gefragten Lehrer, ob mittel- oder unmittelbar.
Zu seinen Lebzeiten veröffentlichte der Meister eine umfassende Reihe musikalischer Drucke wie Il primo libro delle fantasie (1608),Toccate e partite d’intavolatura di cimbalo libro primo (1615), Recercari et canzoni franzese (1615), Il primo libro di capricci (1624), Il secondo libro di toccate etc. (1627), Fiori musicali (1635) sowie Canzoni alla francese (1645). Ein großer Teil dieser Werke ist auch heutzutage gut bekannt in Unterricht, Konzert und musikwissenschaftlicher Beschäftigung.
Spätestens seit der Wiederentdeckung originaler italienischer Orgeln und Cembali und dem Bewusstsein für die entsprechende Aufführungspraxis vermag Frescobaldis Musik ungehindert ihren besonderen Reiz zu entfalten. Der italienische Organist und Cembalist Roberto Loreggian hat vor einigen Jahren eine erste Totale dieses umfangreichen Konvoluts unter Verwendung originalgetreuer Instrumente und Spieltechniken auf CD eingespielt. Nun liegt mit dieser Veröffentlichung eine weitere sehr dankenswerte und interessante Ergänzung von Loreggians Beschäftigung mit Fres­cobaldi vor.
Loreggian bedient sich einer Ausgabe sämtlicher nichtveröffentlichter Manuskripte von der Hand Frescobaldis, die von den Musikwissenschaftlern Etienne Darbellay und Carlo Frey im Verlag Edizioni Suvini Zerboni publiziert worden sind. Diese Manuskripte sind in einer Reihe bedeutender Bibliotheken wie der Bayerischen Staatsbibliothek, der British Library, der Sammlung Chigi, der Biblioteca Vaticana und zahlreicher anderer aufbewahrt. Loreggian legt in seinem ausführlichen Booklettxt anhand einiger Beispiele dar, wie sich die Transformation einiger Werke entwickelt hat. Beispielsweise gibt es im Manuskript MS Chigi 205.206 eine Variationskomposi­tion Passacagli, die im späteren Druck unter dem Titel Partite Cento sopra Passacagli im Anhang des Primo libro di Toccate firmiert. Ein weiteres Beispiel für diesen Entwicklungsprozess sind die Partite sopra l’aria di Monica aus eben demselben Primo libro, die im Manuskript der Biblioteca Nazionale di Torino unter dem Namen Sonata seconda den Erstentwurf darstellen. Nach dem Hörvergleich einiger Werke der Drucke mit ihren als Manuskript erhaltenen früheren Versionen kann man ganz pauschal feststellen, dass es sich in den meisten Fällen um keine eklatanten Abweichungen handelt, da und dort sind Unterschiede in den Fiorituren und der Formulierung des Materials zu bemerken. So könnte man die sehr verdienstvolle Arbeit der Autoren Frey und Darbellay vor allem als eine willkommene und durchaus hochinte­ressante wissenschaftliche Bereicherung des Frescobaldischen Werkkanons, gewissermaßen als eine „Bewusstseinserweiterung“, bezeichnen. Oder, um es mit Philipp Emanuel Bach zu umschreiben: eine Sache „für Kenner und Liebhaber“. Roberto Loreggian erweist sich auf seiner erneuten Tour de force in Sachen Frescobaldi als beides. Sein Spiel ist von tiefer Sachkenntnis getragen, seine Artikulationskunst ist vielseitig und fein und er versteht es, fern jeder übereilten Hast die einzelnen Werke eindrücklich darzustellen.
Die Klangqualität der Aufnahmen mutet recht natürlich an, die verwendeten Instrumente – Antegnati-Orgel von 1565 in Santa Barbara, Mantua; Zanin-Orgel von 1998 in Santa Caterina, Treviso; Cembalo als Kopie eines italienischen Instruments aus dem 17. Jahrhundert – sind eine hervorragende Wahl für die Aufführung dieser Musik.

Christian Brembeck