Johann Ludwig Krebs

Complete Organ Music

Manuel Tomadin an der Schnitger-Orgel der Kerk von Noordbroek (NL), der Silbermann-Orgel der Petrikirche Freiberg/Sachsen, der Schnitger & Freytag-Orgel der Petruskerk Zuidbroek (NL) und der Pradella-Orgel des Santuario del Divin Prigioniero, Vale di Colorina, Sondria (I)

Verlag/Label: 7 CDs, Brilliant 95363 (2018)
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2018/04 , Seite 60

4 von 5 Pfeifen

Über viele Jahre hinweg stand der Bach-Schüler Johann Ludwig Krebs (1713–80) ganz im Schatten seines gigantischen Lehrmeis­ters. Er galt mithin als der klassische Prototyp eines Epigonen. Lieber griffen die OrganistInnen zum Studium eines Bach’schen Werks als zu einem in der Schwierigkeit gleichrangigen Stück von Krebs.
Inzwischen hat sich diese sehr einseitige Sichtweise erfreulicherweise zum Positiven hin verändert, denn zu den zwei bereits vorlie­genden Gesamteinspielungen des Krebs’­schen Orgelwerks (durch Beatrice-Maria zusammen mit Gerhard Weinberger und ebenso durch den Autor dieser Rezension) gesellte sich nun eine dritte hinzu, vorgelegt von dem im italienischen in Triest amtierenden Organisten Manuel Tomadin. Dieser beschränkte sich auf die Orgel-Solostücke; die Werke für Orgel und ein zweites Instrument blieben ausgespart. Ebenso fehlen vier großformatige Choralbearbeitungen (Krebs-WV 516, 518, 530, 537). Eingespielt hat er dieses Konvolut innerhalb nur eines Jahres – das nötigt Respekt ab!
Tomadin setzt mit seiner Sichtweise und der Interpretation des Krebs’schen Œuvres persönliche und markante Akzente. Schon die Auswahl der Orgeln lässt aufhorchen, denn mit ihr projiziert Tomadin das Schaffen des Bach-Schülers gleich auf zwei First-Class-Labels baro­cker (deutscher) Orgelbaukunst: auf Schnitger und Silbermann; sprich auf Arp und Franz Caspar, Letzterer in Zusammenarbeit mit Heinrich Hermann Freytag, bzw. auf den Sachsen Gottfried Silbermann. Lediglich bei der Einspielung des ers­ten Teils der Clavier-Übung bevorzugte Tomadin (merkwürdigerweise) ein modernes Instrument aus der Werkstatt von Giovanni Pradella (2007) im lombardischen Colorina.
Mit diesen erstklassigen Instrumenten ist man bei einer CD-Produktion vorab immer schon bestens aufgestellt, zumal sich im Fall von Gottfried Silbermann eine direkte künstlerische wie auch persönliche Beziehung zu Krebs quellenmäßig belegen lässt. Gleiches kann man zu Arp Schnitger und dessen Schule freilich nicht nachweisen. Für die deutlich auf die Empfindsamkeit und den galanten Stil ausgerichtete Orgelmusik von Krebs ist natürlich der norddeutsche Stil Schnitgers dann doch nicht unbedingt die erste Wahl, ganz abgesehen von dem zwar sehr ansprechenden, aber dennoch deutlich vom italienischen Orgelbau beeinflussten Instrument Pradellas.
Die Charakteristika dieser drei sehr unterschiedlichen Orgeltypen fanden unwillkürlich ihren Niederschlag in der klanglichen Ausdeutung der Krebs’schen Orgelmusik durch Tomadin. Die auf Brillanz und Obertönigkeit angelegten Ple­num­stücke, also die großformatigen Praeludien, Toccaten und Fugen, nehmen sich in der norddeutsch-niederländischen Klangwelt trotz der genannten Einschränkung insgesamt überzeugend aus. Bei den intimen und galanten Stücken hingegen vermisst man hier schon ab und zu den streichenden sowie eher grundtönigen Klang der zahlreichen individualisierten Achtfußregister der mitteldeutschen Orgeln des 18. Jahrhunderts, zumal Tomadin (verständlicherweise) auch ein wenig in die fabelhaften Lingualstimmen Schnitgers verliebt zu sein scheint und sie recht häufig einsetzt. Sie passen indes nicht immer recht ins Bild, beispielsweise bei der sensib­len Fantasia a gusto italiano (Krebs-WV 422) oder der Choralbearbeitung „Wir glauben all’ an einen Gott“ (Krebs-WV 554) sowie bei einigen Trios.
Demgegenüber überzeugt Tomadin mit seinem kraftvollen, virtuosen, aber auch sehr diffizilen, wohlartikulierten Spiel, das den Klangstrukturen Krebs’ in allen Details gerecht wird. Ganz auf den kammermusikalischen Gusto zugeschnitten ist seine Darstellung der Manualiter-Stücke aus der Clavier-Übung, wobei er der einmanualigen Pradella-Orgel recht delikate Registrierungen entlockt. Die gewählten Tempi wirken insgesamt, vor allem bei den virtuosen Stücken, nie überzogen, sondern sind stets wohltuend auf den jeweiligen Affekt der Kompositionen und die Raumakustik der Kirchen abgestimmt.
Im knapp gefassten Booklet (nur in Englisch) sind neben Tomadins Vita alle Orgeln mit Foto und Disposition dokumentiert. Ein knapp angelegter und leider nicht ganz fehlerfreier Lebenslauf von Krebs (so wird berichtet, dass Krebs 1737, „also fünf Jahre nach Bachs Tod“, Leipzig verließ; auch der Amtsantritt von Krebs 1756 in Altenburg wurde um ein Jahr vorverlegt!) sowie eine knappe Einführung in sein Orgelschaffen ergänzen das Book­let, wobei leider generell auch keinerlei Werk-Nummern des Krebs-Werke-Verzeichnisses angegeben werden.
Fazit: eine sehr bemerkenswerte, facettenreiche und auch aufnahmetechnisch perfekte Neueinspielung mit kleinen interpretatorischen und editorischen Einschränkungen, die auf jeden Fall zum Kauf und zum intensiven Hören empfohlen werden kann.

Felix Friedrich