Anthoni Van Noordt

Complete Organ Music

+ Werke von Jan Pieterszoon Sweelinck und Heinrich Scheidemann. Manuel Tomadin an der Stellwagen-Orgel der Jakobikirche zu Lübeck

Verlag/Label: 2 CDs, Brilliant 95895 (2021)
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2022/01 , Seite 61

Bewertung: 3 von 5 Pfeifen

Die Einrahmung von Anthoni van Noordts Gesamtwerk für Orgel durch zwei Bearbeitungen des Chorals „Erbarm dich mein, o Herre Gott“ von Sweelinck und Scheidemann erleichtert die Klassifizierung seiner Kompositionen. Den in Stein gemeißelten klaren Strukturen der beiden Rahmenstücke steht in den zehn mehrversigen Psalmen und den sechs Fantasien des niederländischen Kom­po­nis­ten (1619–75) eine kleinteilige Arbeit mit Themen und Motiven gegenüber, die Intellektualität und Spielfreude repräsentieren.
Die Psalmbearbeitungen Van Noordts verwenden die unterschiedlichsten Satztechniken: Bicinien, Cantus-firmus-Durchführungen in allen Stimmlagen oder Kolorierungen. Van Noordts Fantasien verarbeiten Einflüsse durch italienische Canzoni alla francese ebenso wie britische und niederländische polypho­ne Kompositionstechniken. Hin­zu kommen Wechsel von „tempus imperfectum“ und „tempus perfectum“. So entstand ein Personalstil nordwesteuropäischer Prägung, der reichhaltiger und bunter ist als zuvor in dieser Region bekannt.
Nach dem Hören von Manuel Tomadins Einspielungen bleiben Psalm 6 und Fantasia 6 in höchst eindrucksvoller Erinnerung. Die Lü­becker Stellwagen-Orgel, deren Möglichkeiten weit über diejenigen der Van Noordt zur Verfügung stehenden Instrumente hinausgehen, und Tomadins Registerwahl lassen Freunde historischer Orgeln voll auf ihre Kosten kommen. Neben geschlossenen Registrierungen kommen hier auch oft Einzelregister und spaltklängige Zusammenstellungen zu Wort. Letzteres ist vielleicht nicht jedermanns Sache. Aber das Ein­registrieren des vorgelegten Repertoires mit seinen vielen Einzelsätzen und Episoden auf nur einer Orgel ist eine Mammutaufgabe, weil sie die häufige Wiederholung gleicher Klänge vermeiden muss.
Die Interpretationen Manuel To­madins sind relativ geglättet und geprägt von einer Wahl spritziger Tempi, ohne dabei direkt überhitzt zu wirken. Aber es gibt auch Defizite im Profil seines Spiels: Es fehlt das metrische Netz von Betonungen „guter“ Taktzeiten. Einzelne Noten von Cantus-planus-Linien werden ohne ersichtlichen Grund mal legato, mal getrennt vorgetragen. Wenn in einigen Sätzen sehr schnelle Figurationen auftauchen, die in den frischen Tempi nicht mehr ausführbar sind, gibt das Tempo etwas nach. Diese Beliebigkeiten stören die Eindrücklichkeit dieser verdienstvollen Einspielung von einem hohen Repertoirewert. Trotzdem ist die interpretatorische und klangliche Darstellung von Tomadin geeignet, ein Interesse für das Orgelwerk von Anthoni Van Noordt zu wecken.
Das englischsprachige Booklet informiert über Van Noordts stilis­tisches Umfeld, über die Stellwagen-Orgel, über die verwendeten Regis­trierungen und über die Vita von Manuel Tomadin.

Wolfram Syré