Friedrich Wilhelm Zachow

Complete Organ Music

Simone Stella an der Pinchi-Orgel (Op. 444) in der Kirche von San Giorgio in Rieti (Italien)

Verlag/Label: 2 CDs, Brilliant 96022 (2021)
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2022/01 , Seite 60

Bewertung: 4 von 5 Pfeifen

Wer war Pietro Alessandro Yon? Der 1886 in der Provinz Turin Geborene studierte u. a. in Mailand, Turin und Rom und wurde dort 1905 Organist am Petersdom. 1907 wanderte er nach New York aus und gründete dort zusammen mit seinem Bruder eine Musikschule. Von 1921 bis 1926 wirkte er als Organist an St. Francis-Xavier, ab 1926 an St. Patrick’s Cathedral. In deutschen Orgelreihen und -konzerten begegnet man seinem Namen kaum bis gar nicht, was angesichts der hohen Qualität seiner Musik ein Jammer ist. Auch auf Tonträger ist Yon sträflich unterrepräsentiert. Nach seinem Tod 1943 dauerte es 75 Jahre, bis die erste Gesamteinspielung seiner Orgelwerke auf vier CDs erschien, eingespielt von Elisa Teglia beim Label Tactus.
Nun also hat Brilliant ebenfalls mit einer Box nachgezogen, betitelt „Volume 1“. Man fragt sich, warum das Label das komplette Orgelwerk des Wahl-Amerikaners nicht ebenfalls in einem „Aufwasch“ vorlegt; eine vierte CD hätte bequem Platz in der Box gehabt. Auf wichtige Werke wie etwa die 4. Orgelsonate Pastorale oder Avvent – Prima suite religiosa per organo müssen wir wohl noch ein Weilchen warten.
Und für den Fall, dass bei Volume 2 wieder derselbe Organist an derselben Orgel aktiv ist, darf jetzt schon gesagt werden: Darauf dürfen wir uns freuen! Denn was der Italiener Tommaso Mazzoletti hier auf den drei je rund eine Stunde lang dauernden CDs präsentiert, ist einfach himmlisch. Und das liegt ganz klar auch und vor allem an der Orgel. Denn Mazzoletti hätte sich für diese gleichsam transatlantische Musik seines Landsmanns, die das Beste aus der Alten und Neuen Welt in sich vereinigt, kaum ein passenderes Instrument aussuchen können als die Fisk-Orgel der Lausanner Kathedrale.
Opus 120 der Firma C. B. Fisk ist die erste Pfeifenorgel eines US-amerikanischen Orgelbauers in einer europäischen Kathedrale. Die 2003 eingeweihte Orgel verfügt (derzeit) über 98 Register und 6737 Pfeifen. Diese sind auf fünf Manualwerke (zuzüglich Fernwerk und Pedal) verteilt und lassen sich von zwei Spieltischen aus ansteuern. Die gesamte Orgelanlage wurde von Firmen aus Kanada, England, Deutschland, Italien sowie der Schweiz geplant und realisiert, die Federführung lag aber bei Fisk. Der transparente, helle, dabei warme und „satte“ Sound des Instruments begeistert. Und da Mazzoletti hier ein Meister der Registrierung ist und ein sicheres Gefühl für Tempi und Farben hat, bleiben auch in dieser Richtung keine Wünsche offen. Die chromatischen Verwerfungen der Sonata Cromatica arbeitet er dabei genauso klar, detailliert und sorgfältig heraus wie die romantischen und elegischen Implikationen der Sonata Roman­tica oder des Canto Elegiaco.
Zu einem Höhepunkt der Box gerät das Concerto Gregoriano for Organ and Piano. Das an sich heikle Zusammenspiel dieser zwei grundverschiedenen „Tasteninstrumente“ gelingt vorbildlich, da Mazzoletti an der „Fisk“ und die aus Florenz stammende Pianistin Gaia Federica Caporiccio an ihrem Bösendorfer bes­tens aufeinander eingestimmt und damit gleichwertige Partner sind. – Stark!
Burkhard Schäfer
Auf der ersten CD sind 37 Tracks mit einer Spielzeit von 79 Minuten; die zweite mit 48 Titeln dauert 77’18 Minuten. Diese Vielzahl steht für 51 Choralbearbeitungen und zwei Choralpartiten, die alphabetisch geordnet sind, wobei zwölf freie Kompositionen die Folge ein- und ausleiten sowie regelmäßige Zäsuren setzen. Die freien Orgelstücke sind nach Tonarten geordnet. Diese Zahlen machen deutlich, dass man in Friedrich Wilhelm Zachow (1663–1712) einen Meister des Orgelchorals sehen kann. Womöglich erlauben diese Orgelsätze, einen Blick auf seinen musikalischen Sonn- und Feiertag in Mitteldeutschland zu werfen: Mit solchen Musikstücken wurde wohl der einstimmige Gemeindegesang prä-, inter- oder postludiert.
1684 konnte sich der junge F. W. Zachow aus der Zunft der Stadtpfeifer hinauskatapultieren, als er – dank „Vitamin B“ – in das prestigereiche Amt des Organisten der Marktkirche zu Halle gewählt wurde. Zuständig war er nicht nur für das Orgelspiel, sondern auch für die kirchliche Vokal- und Instrumentalmusik.
Manchmal könnte der Eindruck entstehen, dass die Beschäftigung mit den Großen und Etablierten der Musikgeschichte einen angemessenen Blick auf den „Rest“ nicht zulässt. So schwimmen im Kielwasser des berühmten Kosmopoliten Georg Friedrich Händel „kleine“ Fische wie eben Zachow. Doch es gab Zeiten, da war es umgekehrt: Da war der kleine Händel einer der Schüler Zachows. Der Organist der Marktkirche erkannte die Begabungen seiner Schüler und wusste sie offensichtlich richtig zu fördern. Bekannt ist Zachows private Bibliothek,
eine musikalische Nord-Süd-Achse, Vielfalt und auch Aktuelles aus Italien, aber ebenso Wunderbares aus der norddeutschen Schule. Der offensichtliche Stellenwert des Unterrichtens legt es nahe, dass die überlieferten Choralvorspiele vielleicht (auch) pädagogischen Zwe­cken dienten.
Eingespielt wurde die Doppel-CD 2019 auf der Pinchi-Orgel (Op. 444, 2012) in der Kirche von San Giorgio in Rieti: ein schönes, wohldisponiertes neobarockes Instrument mit 25 Registern (5 Transmissionen), verteilt auf Hauptwerk, Rückpositiv und Pedalwerk, mit dem sich offensichtlich mitteldeutsche und norddeutsche Tastenkunst trefflich darstellen lässt.
Simone Stella, ein konzertierender, Noten edierender, schreibender und global vernetzter Tausendsassa, dem wir Gesamteinspielungen der Tastenmusik von G. Böhm, J. A. Reincken u. v. a. verdanken, ist ausgewiesener Fachmann (nicht nur) barocker Orgelmusik. Recht sportlich und virtuos geht er die Musik aus Halle an; stellenweise ist es möglich, die Choralmelodien locker mitzusingen. Den etwas statisch wirkenden Registerfundus haben weder Stella noch Pinchi zu verantworten; er erklärt sich durch die Dienstorgel Zachows. Das von G. Reichel 1663–64 erbaute Instrument ist einmanualig und hat sechs Register.
Das Doppelalbum lädt dazu ein, sich ausgiebiger mit dem Hallenser Meis­ter zu befassen. Die neuere Forschung (W. Stadnitschenko, 2015) kann nur bedingt eine Hilfe sein, versucht sie doch die Bedeutung Zachows auf Kosten D. Buxtehudes und J. Pachelbels zu kumulieren. In seinen besten Momenten kann der Komponist aus Halle der Kunst A. N. Vetters, J. H. Buttstedts und eben auch J. Pachelbels das Wasser reichen, aber nur in den besten.
Gerade einige Orgelchoräle – Choralvorspiele mit Cantus firmus, Choralfugen, auch als Kombina­tionsform, Choralfantasie und Choralpartiten – mit ihren schönen Liedmelodien, die oft heute noch präsent sind, wirken inhomogen. Ohne irgendeinem Meister vergangener und heutiger Tage an den Karren fahren zu wollen, scheinen eine Reihe dieser oft kurzen Stücke den gängigen Gepflogenheiten von Kontrapunkt und melodischer Betonung nicht ganz entsprechen zu wollen. Mitunter wirken einige der vierstimmigen Sätze etwas überladen, als ob manche Exposition nicht richtig entfaltet wird, Linien abbrechen, und, bevor ein Gedanke sich gänzlich entfalten kann, ein neuer auftritt. Unproblematisch sind in dieser Hinsicht die dreistimmigen Cantus-firmus-Kompositionen mit ihrem überwiegend klaren Duktus der Stimmen. Bicinien scheint Zachow, anders als seine Zeitgenossen, vermieden zu haben. Womöglich sind das Hinweise auf Entwicklungsphasen des Komponisten, dessen musikalische Sozialisation primär in der Stadtpfeiferei verwurzelt war. Die Präludien sind entweder Akkordfolgen mit spannenden Vorhalten oder sie bestehen aus Girlanden mit gebrochenen Akkorden. Vielleicht ein wenig triviale, aber wirkungsvolle und gute Musik. Die Fugen sind solide gearbeitet und können gut bei J. Kuhnau und J. C. F. Fischer mithalten.
Es scheint einen Zachow dieser 53 Choralbearbeitungen (inkl. Variationen) zu geben, „… dessen wirkliche Rolle in der … Orgelchoral-Geschichte sowie Stilgeschichte noch zu untersuchen, zu präzisieren und zu ergründen bleibt“ (2015), und einen Zachow, der Präludien, Fugen, eine Claviersuite, Kantaten und Messen – der überlieferte Teil eines umfangreicheren Werks – komponierte. 2012 entdeckte die renommierte Musikwelt den 1712 verstorbenen Zachow wiede; doch schnell wurde es um ihn wieder still, wenn auch Th. Pirkl, Partitura Organum u. e. a. den Komponisten nie aus den Augen verloren haben. Hier liegt u. a. ein Verdienst dieser Einspielung: Wieder auf diesen Orgelkomponisten unvoreingenommen aufmerksam zu machen; Zachows Musik einfach für sich selbst sprechen zu lassen.
Was man sich gewünscht hätte: In den vergangenen Jahren hat Brilliant Classics die Orgel- bzw. Tas­tenmusikwelt mit denkwürdigen Gesamteinspielungen verwöhnt, wo­bei das jeweilige Tastenmusikœuvre oft auf Orgel(n) und Cembalo aufgeteilt wurde. Warum nicht bei Zachow? Gerade die Kompositionen, die sich nicht auf vokale Vorlagen beziehen, sind nicht zwingend Orgelmusik. Sie lassen sich sehr gut auf Kielinstrumenten darstellen, was für das Capriccio LV.64 mit dem H’ und A’ zum Erfordernis wird. Das hätte erlaubt, Zachows Tastenmusik mit der h-Moll-Suite LV.65 komplett zu machen (3. CD oder Bonusvideo?) – die Suite mit der wilden und mitreißenden Fuga finalis, deren Thema der große Händel in seinem Concerto Grosso op. 6, 12 als Thema verwendete. Welch Reminiszenz!

Johannes Ring