Sweelinck

Complete Harpsichord and Organ Music

Daniele Boccaccio am Cembalo und an den Orgeln der Johanneskirche Oederquart, der Marienkirche Lemgo und der Andreaskirche Ostönnen

Verlag/Label: 6 CDs, Brilliant Classics 95643 (2020)
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2021/02 , Seite 60

Nicht nur im 400. Todesjahr von Jan Pieterszoon Sweelinck 2021 lohnt es sich, die rund siebzig ihm zugeschriebenen Kompositionen für Tasteninstrumente (etwa ein Viertel seines überwiegend aus Vokalmusik bestehenden Gesamtwerks) eingehend zu studieren und zu würdigen. Auf sechs jeweils als Hörfolge konzipierten CDs präsentiert der 1967 geborene Daniele Boccaccio dieses in erster Linie auf didaktische Zwe­cke ausgerichtete Kompendium des niederländischen „Organisten-Machers“ an der Schwelle von Renaissance zum Frühbarock.
Geschickt gelingt es Boccaccio dabei, zwischen den Genres Fantasie, Toccata sowie Variationen über geistliche und weltliche Themen zu wechseln. Letztere weist er dem Cembalo zu, einer Kopie von Sebas­tiano Cali nach Joannes Couchet, 1617; dem einmanualigen Kielflügel entlockt der Interpret bemerkenswert viele Klangfarben. Im Üb­rigen erklingen die Schnitger-Orgel der Johanneskirche Oederquart, die Chororgel von Scherer in der Marienkirche Lemgo und die Orgel der Andreaskirche Ostönnen. Obwohl ihre ältes­ten Bestände zwischen 1550 und 1678 datieren, passen diese drei wichtigen Denkmale trotz ihrer erfreulich individuellen Klangbilder sehr gut zusammen.
Sehr schade ist, dass die Fotos im ausschließlich englischsprachigen Booklet auf eine Seite gesampelt sind und nähere Informationen fehlen. Zumindest für die Werke in Oederquart und Lemgo ist es gewagt, von „Renaissance-Orgeln“ zu sprechen, basieren sie doch mit dem Löwenanteil ihres Pfeifenwerks auf Rekonstruktionen durch Rowan West, der auch das Instrument in Ostönnen restaurierte. Selbstverständlich ist historisches Pfeifenwerk zu schonen; dennoch stören an einigen exponierten Stellen Verstimmungen – zum Beispiel am Anfang von „Wir glauben all an einen Gott“. Was die Kombination von Buchstaben plus Zahl hinter manchen Einträgen der Titelei bedeutet, erschließt sich nicht.
Die kärgliche Würdigung des Instrumentariums ändert jedoch nichts an ihrer glücklichen Auswahl sowie Boccaccios so abwechslungsreichen wie fantasievollen Registrierungen. Seiner sorgfältigen, durchweg engagierten, dennoch nie exaltiert wirkenden Interpretation merkt man an, dass er sich bereits in jungen Jahren neugierig und intensiv mit dieser komplexen Musik auseinandergesetzt hat. Bei anerkannten Spezialisten für dieses Repertoire wie Montserrat Torrent, Luigi Ferdinando Tagliavini oder Michael Radulescu vertiefte er fachspezifische Kenntnisse und hörbar auch seine Sensibilität für diese gerade wegen fehlender Hinweise zu ihrer detaillierten Ausführung oft heikle und technisch stellenweise halsbreche­rische Literatur. Insofern lassen die klanglichen Eindrücke nichts zu wünschen übrig – man muss ja nicht alle sechs „Einzelkonzerte“ hintereinander hören: Denn dann fielen naturgemäß die kompositorischen „Muster“, besonders in den Varia­tionswerken, auf.
Interessierte, die mit Tastenmusik zwischen Renaissance und Frühbarock noch wenig vertraut sind, dürften allerdings mit dieser Anthologie (ausgespart wurde, wegen der unsicheren Autorschaft Sweelincks, bewusst Ballo del Granducca) etwas ratlos zurückgelassen werden. Gewiss ist es nicht die Aufgabe
von Textbeigaben zu Tonträgern, Grundsatzreferate zur Materie beizusteuern, und allzu weitschweifige Kommentare in Kleindruck steigern selten den Wissensdurst von Liebhabern. Erklärung und Schema zu den Tonumfängen der Oude Kerk in Amsterdam zu Sweelincks Zeit stimmen nicht überein. Eine knappe Lebensskizze Sweelincks und ein paar Hinweise, etwa zur damaligen Musikpraxis, wären gewiss hilfreich gewesen. Immerhin wurde im Vakuum des durch die Reformatoren durchgesetzten Instrumentenverbots im Gottesdienst in Amsterdam um 1600 das heutige „Orgelkonzert“ etabliert.
Stattdessen räumt der Interpret seiner Vita nahezu zwei Seiten ein, widmet jedoch der Materie kaum ein Drittel mehr an Kommentar. Dies steht in einem unpassenden Verhältnis zu seinem ambitionierten und künstlerisch durchaus gelungenen Unternehmen: Schließlich prägte Jan Pieterszoon Sweelinck (1562–1621) das Schaffen für Tas­teninstrumente über Generationen in weiten Teilen Europas und inspirierte zahlreiche Schüler.
Daniele Boccaccios verdienstvolle Gesamteinspielung des Schlüssels zur musikalischen Zeitenwende richtet sich wohl eher an Kenner der Materie. Für alle faszinierend ist, welch enorme Bandbreite der Künstler Sweelincks Musik vermittelt: Sie reicht vom zarten Gedeckt (Lemgo) bis hin zum geradezu stürmischen monumentalen Plenum (Oederquart) in den Variationen „Mein junges Leben“; es lässt erahnen, wie das damals in Ams­terdam geklungen haben könnte.

Markus Zimmermann