Johann Sebastian Bach

Clavier Übung Part I-IV

Organ Arrangements Hansjörg Albrecht. Hansjörg Albrecht an der Metzler-Orgel von St. Cyriakus in Krefeld-Hüls, der Mühleisen-Orgel von St. Paulus in Harsewinkel, der Metzler-Orgel in Hopfgarten/Brixenthal und der Mühleisen-Orgel der Stiftskirche Bad Gandersheim; Münchener Bach-Chor

Verlag/Label: 6 CDs, Oehms Classics OC 020 (2018)
erschienen in: organ – Journal für die Orgel 2019/02 , Seite 60

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Mit seinen mit „Partita“ überschriebenen Suiten für ein Tasteninstrument nahm Johann Sebastian Bach deutlich Bezug auf jene beiden Sammlungen, die sein Vorgänger im Amt des Leipziger Thomaskantors Johann Kuhnau 1689 und 1692 als Neue Clavier-Übung veröffentlicht hatte. Bach gab seine erste „Partita“ anno 1726 heraus; in den darauffolgenden Jahren folgten fünf weitere. Alle sechs zusammen bildeten dann schließlich sein Opus 1, erschienen 1731 „in Verlegung des Autoris“ und betitelt mit Clavier-Übung sowie mit dem schönen Hinweis: „Denen Liebhabern zur Gemüths Ergoetzung verfertiget“. Drei weitere Teile der Clavier-Übung folgten bis 1741/42.
Es ist aber eigentlich „nur“ der Dritte Teil, der zum Kernrepertoire der OrganistInnen gehört und landläufig als „Orgelmesse“ bezeichnet wird. Der Münchener Dirigent und Konzertorganist Hansjörg Albrecht widmet sich nun allen vier Teilen der Bach’schen Enzyklopädie für Tasteninstrumente. Und er wählt dazu einzig und allein: die Orgel! Das ist ein völlig legitimes Unterfangen, auch wenn im herkömm­lichen Konzertbetrieb die Partiten, das Italienische Konzert, die Französische Ouvertüre und vor allem die Goldberg-Variationen so gut wie ausschließlich auf dem Cembalo oder dem Klavier präsentiert und vom Publikum meist auch auf diese Instrumente hin „verortet“ werden.
Um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen: Hansjörg Albrechts Versionen der zuletzt aufgezählten Werke Bachs sind fantastisch! Sie bereichern das Repertoire, sie werfen, sofern man Bach auf dem Klavier resp. Cembalo in Hör-Erinnerung hat, neues Licht auf Partituren, die man längst gut zu kennen glaubt. Mit etwas Arroganz ließe sich sogar behaupten: Die Orgel macht mehr aus dieser Musik als Klavier und Cembalo – und vor allem Hansjörg Albrecht als deren Interpret. Mehr an Lebendigkeit, an grenzenloser Spielfreude, unglaublicher Inspiration und nicht zuletzt stupender Virtuosität kann man kaum erwarten; bis auf einige wenige Momente in dieser Gesamtaufnahme (immerhin sechs CDs), in denen Albrecht die Grenzen der auf einer Orgel zu realisierenden Musik vielleicht ein wenig überschreitet.
Das Entrée dieser CD-Produktion: die Partiten. Schon die Ouvertüre der ersten in D-Dur lässt 7 Minuten lang keinen Zweifel daran: hier spricht die Königin der Instrumente. Mit all der ihr innewohnenden Kraft. Trompeten, Kornette, Posaunen, Mixturen. Das ist überwältigend. Was dann folgt, gleicht einer Reise von zweieinhalb Stunden in einem Zug mit stetig wechselnden Panorama-Blicken. Die können sich gen Himmel richten wie in der Corrente der 5. Partita, in der eine solistische 4’-Spitzflöte den Eindruck vermittelt, als bliesen die bethlehemitischen Engel dem Jesuskind ihr Loblied. An anderer Stelle bleibt der Blick geerdet wie in der Burlesca der 3. Partita, die Albrecht durchaus ruppig ausfallen lässt – und damit ganz nah dran ist am ureigenen Charakter der Musik.
Wie im nahtlos folgenden Scherzo. Ein Scherzo mit Trompette en chamade! Geht denn so etwas? Es geht! Kein Zweifel: Bach hätte seine helle Freude daran gehabt. Auch an der üppigen Fülle, in der das Capriccio der 2. Partita kraftvoll vorüberstürmt wie ein Wirbelwind, dem sich nichts in den Weg zu stellen vermag. Und erst die Toccata der 6. Partita! Eine durch und durch erschütternde Klage mit massiven, von „gequälten“ Vorhalten geprägten Akkorden. Unwillkürlich drängt sich der Gedanke an Munchs berühmte Bilder Der Schrei auf, als ginge es Hansjörg Albrecht darum, den visualisierten Schrecken in Tönen auszudrücken, mit aller Gewalt der Orgel.
In der Summe sind es vierzig einzelne Nummern, aus denen die Partiten bestehen – vierzig Mal entwirft Albrecht ganz individuelle Bilder ganz unterschiedlicher Stimmungen. Jedes trägt seine persönliche Handschrift, über die man sich gewiss trefflich streiten kann. Da­rüber, ob man Bach denn so spielen darf, so extrem, so unkonventionell und vor allem: mit zum Teil derart gewagten Registrierungen. Mich persönlich kann Albrechts Spiel, seine mitunter recht unorthodoxe Realisierung auf der Orgel voll überzeugen.
Das gilt uneingeschränkt auch für das Italienische Konzert, dem in Bachs 2. Teil der Clavier-Übung noch die Französische Ouvertüre folgt. Auch hier wieder überbordend sprühende Vitalität, abwechselnd mit sensibel erspürter meditativer Ruhe, wie etwa in der still in sich gekehrten Sarabande.
Bachs Goldberg-Variationen auf der Orgel? Wie eingangs schon erwähnt: eher ungewöhnlich. Aber kein Sakrileg, im Gegenteil. Albrecht öffnet gewaltig die Ohren und offenbart Bachs Meisterschaft in Sachen Kontrapunktik, weil „sein“ Instrument es dank Aufteilung der Stimmen auf verschiedene Manuale und Pedal gestattet, Strukturen erfahrbar zu machen. Mehr noch: Die Farben der Orgel lassen die Variationen kaleidoskopartig funkeln. Mal à la française mit Cromorne in der linken, Cornet in der rechten Hand (Variation 7), mal wie ein zart perlendes Carillon (Variation 23) oder eine quirlig vorbeihuschende Fileuse (Variation 26). Mitunter gehen Albrecht die Pferde durch (Variation 10), hier und da neigt er zu extremen Staccati. So verwegen war aber auch schon der junge Bach als Organist im Dienst seiner Kirchen­gemeinde.
Den Dritten Teil der Clavier-Übung präsentiert Albrecht in toto: Präludium und Fuge Es-Dur, dazwischen sowohl die großen als auch die „kleinen“ Choralbearbeitungen, bereichert um die vom Münchner Bach-Chor gesungenen Choräle. Eine spannende Auslegung der hoch­komplexen, „gelehrten“ Musik, die hier alles andere als gelehrt herüberkommt.
Vier ausnehmend klangschöne Instrumente nutzt Albrecht: zwei Mal Metzler, zwei Mal Mühleisen/Straßburg. Allesamt groß disponiert, französisch ausgerichtet – für die Lesart des Interpreten optimal geeignet. Mag sein, dass sich die Geis­ter an dieser Produktion scheiden, aber man wird sie nicht so schnell wieder aus der Hand legen. Ein großer Wurf!

Christoph Schulte im Walde