Martin Christoph Redel

Chiaroscuro

Passagen für Orgel (2020)

Verlag/Label: Boosey & Hawkes / Bote & Bock
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2022/04 , Seite 59

Der 1947 geborene Martin Christoph Redel ist als Komponist vielfach ausgezeichnet. Zahlreiche prominente Dirigenten, Ensembles, Orchester und Solist:innen haben die Musik des auch als Hochschullehrer erfolgreich wirkenden Künstlers aufgeführt. Nun hat er im Jahr 2020 seinem bis dato mit 102 Opera recht umfangreichen Werk mit Chiaroscuro ein weiteres Stück hinzugefügt. Nach Reflexionen (1972) op. 18, Stele (2013) op. 78 und „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ (2019) ohne Opus-Zahl firmiert es unter op. 97 als sein viertes ediertes Orgelwerk.
Der etwas rätselhaft anmutende Titel bezeichnet ein in der italienischen Spätrenaissance entwickeltes Gestaltungsmittel in der Malerei, das sich durch starke Hell-Dunkel-Kontraste auszeichnet und wofür Künstler wie zum Beispiel Michelangelo Merisi alias „Caravaggio“ berühmt sind.
Auch in diesem Orgelstück kontrastieren grundsätzlich zwei verschiedene Teile mit den Tempoangaben Viertel = 104 bzw. 52 miteinander. Wenn man sich in etwa daran hält, dauert das Werk etwas weniger als zehn Minuten.
Aufgeregte, improvisatorisch anmutende Tongirlanden münden nach einer ruhigen, geheimnisvollen Passage in einen bewegten, mit „Eccitato ed aggressivo“ überschriebenen Abschnitt, welcher in ein rhythmisch-motivisch differenziertes „Lento misterioso“ führt. Ein kurzes Aufflackern im Fortissimo beruhigt sich zu einem längeren „Lento cantabile“, das an Agitation stetig zunimmt und danach den „Eccitato ed aggressivo“-Teil zitiert, in dessen Gestus das Werk beschlossen wird.
Die insgesamt sieben verschiedenen Abschnitte sind, teilweise auch in sich, sehr verschieden mit permanenten Wandlungen und wechselnden Ausdrucksmomenten. Manche bewegten Stellen ähneln rhythmisch einer französischen Toccata nach der Art des Schlusssatzes „Tu es Petra“ aus den Esquisses byzantines von Henri Mulet. Mit etwas Fan tasie wird man bei den ruhigeren Passagen vielleicht an eine Toccata di durezze e ligature eines Girolamo Frescobaldi erinnert. Immer wieder durchziehen auch melodische, choralartige Passagen, besonders im Pedal, das Werk.
Die Tonsprache ist recht herb, wirkt dabei aber nicht „atonal“, wobei tonale Zentren allerdings schwer auszumachen sind. Das Werk mäandert durch verschiedenste Affekte hindurch, ständig erfahren die Hörenden neue Eindrücke.
Den Ausführenden lässt Martin Christoph Redel beim Registrieren alle Freiheiten, es gibt nur Angaben hinsichtlich Dynamik und einige seltene Bezeichnungen hinsichtlich der Fußtonlage oder bestimmter Register wie im „Lento cantabile“.
Das Werk ist anspruchsvoll und bedarf der interpretatorischen Fähigkeiten eines Künstlers wie Widmungsträger Friedhelm Flamme, der das interessante Klanggemälde auch zur Uraufführung gebracht hat.

Christian von Blohn