Claudio Merulo (1533–1604)

Canzoni d’Intavolatura d’Organo, Terzo Libro

Urtext-Edition

Verlag/Label: Edition Walhall EW 1277
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2025/02 , Seite 54

Der Orgelvirtuose Claudio Merulo wurde 1533 in der (gut erhaltenen) Renaissancestadt Correggio in der Emilia-Romagna geboren und verstarb 1604 in Parma. Die beiden Vorworte (englisch und italienisch) der Notenausgaben enthalten plausible Vermutungen über Merulos erste Ausbildung bei den in seinem Heimatort tätigen Komponisten Tul­turale Menon (fran­zösischen Ursprungs!) und Gi­rolamo Donati. Nach kurzem Debüt an der Kathedrale von Brescia bewarb sich Merulo 1557 am Markusdom in Venedig erfolgreich um die Position des zweiten Organisten und folgte 1565 Annibale Padovano als erster Organist an der Capella Ducale nach, wo Giovanni Gabrieli als zweiter Organist wirkte. Die gemeinsamen Improvisationen beider Virtuosen beschrieb Girolamo Diruta als äußerst kunstfertig und elegant! 1591 verließ Merulo Venedig, um in Parma eine Organistenstelle an der Basilika Steccata im Dienste der Farnese anzutreten.
Dank großzügigen Grundgehalts der Procuratoria di San Marco begann Merulo ab 1571 eine intensive editorische Tätigkeit von berühmten Komponisten und eigenen Werken in insgesamt 36 Bänden, die neben Toccaten und Alternatim-Versetten zu Orgelmessen vor allem die strengen Ricercare und die neue Gattung der Canzon alla Francese umfasste. Durch eine Anthologie des Venezianer Verlegers Gardano waren französische Canzoni von Jannequin, Clemens non Papa, Lasso u. a. bekannt geworden und regten dazu an, diese populären Werke für Tasteninstrumente einzurichten. Auf den Brescianer Fiorenzo Maschera geht der Usus zurück, diese Canzonen mit den Namen lokal bedeutender Familien quasi zu nobilitieren. Die elf Canzoni d’Intavolatura d’Organo des von seinem Neffen Giacinto 1606 posthum bei Gar­dano in Venedig veröffentlichten Libro Secondo sind rätselhaft mit offensichtlich weiblichen Charakteren betitelt, die sich oft der Übersetzbarkeit entziehen (Scarampa, Radivila, Iolette u. a.).
Bei der vom unermüdlichen Jolanda Scarpa in gewohnt übersichtlicher Notengrafik begleiteten Edition wird das achtlinige Notensys­tem der gedruckten Vorlage übernommen, ergänzt durch ein Manuskript der Bibliothèque nationale de France. Nur bei den Unterstimmen müssen einige zusätzliche Hilfslinien eingefügt werden; seltene gestrichelte Bögen und kleingedruckte Sicherheitsvorzeichen sind die einzigen editorischen Eingriffe bei der Übertragung. Da Balkierungen im Typendruck nicht möglich waren, orientiert sich die Übertragung an den manuell gravierten Gruppierungen der beiden Toccatenbände und ermöglicht somit ein sehr lesefreundliches Druckbild.
In dem ebenfalls posthum erschienenen Terzo Libro von 1611 finden sich quasi als Krönung des Lebenswerks von Claudio Merulo nur vier deutlich umfangreichere Intavolierungen von Motetten von Thomas Créquillon und Orlando di Lasso, die in Zusammenarbeit von Jolanda Scarpa mit Martina Seleni nach der Druckvorlage übertragen wurden. Beispielhaft stellt die Intavolierung von SVSANNE un giour mit hochvirtuosem, durch alle Stimmlagen führendem Laufwerk und Diminutionen höchste Ansprüche an die Tastenkünstler. – Die Nutzung der Links aus den Quellenangaben schlug in beiden Fällen fehl, womit der in Aussicht gestellte Zugang zu den Originalquellen leider nicht möglich war.
Fast alle Werke beider Bände liegen bei angemessenem Tempo in der halbtaktigen Alla breve-Nota­tion spieltechnisch im oberen Bereich, insbesondere die Ausführung der ausnotierten tremoli und groppetti erfordert intensives Arbeiten. Die konsequente Anwendung his­torischer Fingersätze stellt eine zusätzliche Herausforderung dar, auch wenn viele Problemstellen dadurch wiederum leichter umsetzbar sind.
Mit verlässlichem Notenmaterial gibt der Herausgeber die Verantwortung, Merulos Canzoni in durchdachten Konzertformaten die gebührende Wertschätzung zukommen zu lassen, an die Interpretierenden weiter. Für eine zyklische Gesamtaufführung wird sich schon wegen der langen Einzelsätze selten ein fachkundiges Auditorium finden. Auf italienischen Instrumenten mit niedrigem Tastendruck oder In­strumenten mit geeignetem italienischen Klangpotenzial wird sich jede der Canzonen in einem nicht ausschließlich liturgisch angelegten Konzept einfügen lassen. Steht ein Raum mit Gemälden oder Fresken von Frauen oder weiblich dargestellten Tugenden zur Verfügung, könnte auf transportablen Kleinorgeln oder besaiteten Tasteninstrumenten ein erfrischend stimmiges Programme in Kombination etwa mit Charakterstudien (z. B. François Couperins Les Nonètes / Les blondes / Les Brunes) oder Andreas Willschers Portraits biblischer Frauen entstehen. Mit medial unterstützter Anmoderation kann dies erfolgversprechend auch an anderen Orten realisiert werden.

Josef Miltschitzky

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