Johann Sebastian Bach

Berühmte Orgelwerke

Verlag/Label: OehmsClassics, OC 465 (2018)
erschienen in: organ 2018/02 , Seite 57

4 von 5 Pfeifen

Mit zwei nahezu zeitgleich ein­gespielten CDs rückt die faszinierende Grauhofer Orgel (1734-17) des Magdeburger Barockorgelbauers Christoph Treutmann erneut in den Blickpunkt des Fonomarkts. Was sehr zu begrüßen ist, handelt es sich bei dem dreimanualigen Werk (42/III/P) doch um ein orgelgeschichtlich hochbedeutendes Instrument, das in nahezu vollendeter Synthese Charakteristika des nordisch-hanseatischen und solche mitteldeutschen Orgelbaus vereint. Seine klangliche Nähe zu Schnitger, aber gleichzeitig auch zu Gottfried Silbermann und Trost ist kaum zu leugnen. Trotzdem schuf Treutmann hier ein gänzlich eigenständiges Werk.
Beide InterpretInnen ließen sich von dieser speziellen Stilistik inspirieren, näherten sich aber der Orgel gleichwohl von unterschiedlichen Standpunkten her. Joseph Kelemen sieht in ihr das „perfekte“ Instrument zur Wiedergabe Bach’scher Werke. Deshalb trägt seine CD den Subtitel Bach in Moll. Das klingt stimmungsvoll, ist bei Licht betrachtet allerdings etwas übertrieben, denn nur etwa 60 Prozent der Stücke stehen tatsächlich in Moll-Tonarten. Auch Mami Nagata bevorzugte in Grauhof bei ihrer Repertoirewahl diese Tonalität und zeigt die ganze vielfarbige Bandbreite der Treutmann’schen Klangpalette mittels typischer Original-Kompositionen auf, und das mit einer eher „übersatten“ Spieldauer von mehr als 85 Minuten.
Mit gewisser Erdenschwere eröffnet Kelemen mit BWV 546 imposant seine Einspielung, wobei er den Hörer durchaus die kraftfordernde Traktur der Treutmann-Orgel zumutet und spüren lässt, indem er hörbar auf dichte, schwer atmende Strukturen reflektiert. Er versteht es alternativ aber auch, delikat und locker diverse Choralbearbeitungen auf die Tasten zu setzen. Aufhorchen lässt er mit zum Teil unkonventionellen und zuweilen durchaus kritisch zu hinterfragenden Registrierungen. So setzt er zum Beispiel die „legendäre“ Posaune 32’ (Groß Posaunen Baß 32-Fuß) einzig für den Schlussakkord der Fuge BWV 564 ein (ein Zeitgenosse Treutmanns beschrieb das majestätische Plenum immerhin mit den bildhaften Worten „… dass es einem in der Luft grummelenden Donnerwetter nicht gar ohnähnlich verglichen werde mögte“), während er den Mittelteil dieses Stücks ganz ins Piano zurücksetzt, und das mit der traditionell für solistische Diskantpartien gedachten Sesquialtera des Oberwerks (II). Bei der Instrumentierung des Pedals beschränkt sich Kelemen in der gesamten Passacaglia auf die Mischung Posaune 16’, Trommet 8’ und Superoctava 4’. Das klingt eventuell recht apart, allerdings verleiht die sich in den Vordergrund drängende 8-Fuß-Trompete dem Bass kaum wirkliche Gravität, sondern evoziert eine ausgesprochen tenorale Anmutung. Auch in der Artikula­tion beschreitet der Organist ab und an unorthodoxe Wege.
Mami Nagata geht ihre Interpretationen im Ganzen dagegen leichtfüßig, bisweilen auch „graziös“ an und scheint keinerlei (hörbare) Probleme mit der Traktur zu haben. Ihre Interpretation befindet sich zudem absolut auf der Höhe der aufführungspraktischen Erkenntnisse unserer Zeit. Die Tempi, ihre Artikulation und Registrierungen sind in sich sehr stimmig und feinfühlig und reflektieren auf den klangfarblichen Facettenreichtum der wunderbaren Treutmann-Orgel. Auch Cymbelstern, obgleich bei Buxtehudes Choralbearbeitung nicht zu vernehmen, und Tremulant kommen wirkungsvoll zum Einsatz. Bemerkenswert und ganz im Sinn von Bach ist Nagatas Koppelung der Fuge BWV 539 –alias BWV 1001– mit einer eigenen Transkription des Adagios aus der gleichen Violinsonate. Es spricht für die Qualität der Treutmann-Orgel, dass auch Mendelssohns d-Moll-Sonate („Vater Unser“) absolut überzeugend klingt.
In der Mikrofonierung sind die Aufnahmen Kelemens eher auf die Raumakustik orientiert und wirken dadurch insgesamt etwas indirekter, während Nagatas Einspielung in 24 Bit die eher analytisch-direkte Präsentation der Treutmann-Orgel bevorzugt.
Beide Booklets widmen sich vorrangig der Beschreibung der eingespielten Musik. Kelemen belässt es bei einer bündigen Information über die Geschichte und Charakteristik der Orgel. Das Book­let zu Nagatas CD gibt dem orgelgeschichtlichen Aspekt etwas mehr Raum und wartet außerdem mit einigen schönen Detailfotos von der Orgel auf. Wer also einen umfassenden – und dabei durchaus gegensätzlich akzentuierten – klanglichen Eindruck von der großen Barockorgel der ehemaligen Stiftskirche St. Georg des einstigen Augustiner-Chorherrenstifts bei Goslar gewinnen möchte, dem seien beide CDs im Doppelpack empfehlend ans Herz gelegt.

Felix Friedrich