Hans-Peter Braun
Bei-Spiele
Ausnotierte Orgelimprovisationen zu den Wochenliedern des Kirchenjahres für Unterricht und Gottesdienst, für Orgel / Tasteninstrument
- Heft 1: Advent – Weihnachten – Epiphanias. VS 3535/a
- Heft 2: Sonntage nach Epiphanias – Passion. VS 3535/b
- Heft 3: Ostern – Pfingsten. VS 3535/c
- Heft 4: Trinitatis – 21. Sonntag n. Trinitatis. VS 3535/d
- Heft 5: 22. Sonntag nach Trinitatis – Ewigkeitssonntag – Weitere Feste und Gedenktage (Auswahl). VS 3535/e
Hans-Peter Braun ist ein Praktiker – keine Frage! In seinen fünf Heften zu den Wochenliedern des Kirchenjahres lässt er den Nutzer an einem reichen Schatz improvisatorischer Versuche, Erfahrungen und Ergebnisse teilhaben. Ein Schatz, der unter anderem aus der immer wiederkehrenden Notwendigkeit entstanden ist, der Gemeinde ein vielfältiges und abwechslungsreiches Hörerlebnis im Gottesdienst anzubieten, vielleicht gelegentlich sogar aus der durchaus kirchenmusikalischen Aufgabe, auch aktiver Teil der Verkündigung der frohen Botschaft zu sein.
Braun schreibt über das Phänomen Improvisation: „Der Weg vom Kopf in die Hände und Füße ist weit. Um improvisieren zu können, muß zuvor viel gehört, gewusst und geübt werden. Beim Improvisieren sucht der Spieler nach dem Prinzip ‚trial and error‘ fantasievolle Lösungen am Instrument. Er ‚tastet‘ sich vorwärts. Dieser für Improvisationen typische Entstehungsprozess ist noch deutlich spürbar. Das Ergebnis liegt gut in der Hand, es ist ‚griffig‘.“
Was bietet die Edition? Braun geht anhand der Wochenlieder einmal durch den gesamten Jahrkreis – vom Advent bis zum Ewigkeitssonntag. Nachdem am 1. Advent 2018 mit dem Inkrafttreten der neuen Perikopenordnung für jeden Sonn- und Festtag auch je zwei neue Wochenlieder festgelegt worden sind, ist diese Herangehensweise für den allwöchentlichen praktischen Gebrauch im Gottesdienst eine löbliche Idee. Zu jedem Lied bietet Braun mindestens eine Bearbeitung an: von einer kurzen und einfachen Intonation bis hin zu komplexeren und längeren Choralvor-, Zwischen- und Nachspielen. Immer wieder präsentiert er wunderbare Beispiele für Choralbegleitsätze in sehr unterschiedlicher Faktur und oft mit einem cantus firmus, der nicht in der Oberstimme liegt. Als Schwierigkeitsgrad gibt Braun „leicht bis mittelschwer“ an.
Die nebenamtlich versehene Kirchenmusik leidet seit langem an einer gewissen Fantasielosigkeit, die aber – das sei wohlwollend vermerkt – oftmals auf Praktikabilität gründet. So bietet das 1993 von Manfred Heinig, Hermann Rau und Dietrich Schuberth herausgegebene Orgelbuch zum Evangelischen Gesangbuch (Bärenreiter-Verlag) für jeden Choral eine Intonation, einen dreistimmigen und einen vierstimmigen Satz. Die Intonationen arbeiten mit einfachsten Formen der Vorimitation im pseudo-frühbarocken Stil, die Choralsätze sind streng Note-gegen-Note gesetzt, die Harmonik ist stilsicher einfallslos. Gerade bei den neuern Liedern erscheint diese Herangehensweise zumindest fragwürdig. Nur wenige Publikationen bieten hierzu Alternativen, obwohl es andere stilistische und technische Möglichkeiten auf einfachem spielerischen Niveau gibt!
Für das „alte“ Evangelische Kirchengesangbuch (EKG) gab es drei Sammlungen, die neue formale und harmonische Wege gegangen sind: Kurze Orgelvorspiele und Intonationen zum Evangelischen Kirchengesangbuch und Choralbegleitsätze in neuen Formen für die gebräuchlichen Lieder des Evangelischen Kirchengesangbuches von Karl-Heinrich Büchsel und das Elberfelder Orgelbuch von Rudolf Sudhoff-Groß (alle erschienen bei Möseler). Für das Evangelische Gesangbuch (EG) gab es solche Aus- und Aufbruchsversuche bisher leider nicht.
Hans-Peter Braun verwendet die ganze Palette an improvisatorischen Techniken: Orgelpunkt, Kanon, Tonleiter, Ostinato, Melodiebausteine, Motive, freie Begleitstimmen, harmoniefremde Töne usw. Er spielt mit Harmonien und Satzstrukturen. Immer aber bleibt der cantus firmus gut erkennbar und durchhörbar.
Mit „trial and error“ und „tastend“ beschreibt Braun das Improvisieren. In seinem Vorwort bemüht er Johann Sebastian Bachs Vorwort zu dessen Orgelbüchlein: „Anleitung, auff allerhand Arth einen Choral durchzuführen“, und er nennt seine Sammlung Bei-Spiele. Beides erfüllt er in vollem Umfang mit spieltechnisch „griffigen“ Musikstücken, die – was nicht selbstverständlich ist – durchaus hörenswert sind. Seine stilistische Breite fängt irgendwo in der Notre-Dame-Schule an, verweilt ausgiebig in der Barockzeit und reicht bis zu Swing, Jazz und Bigbandsound.
Die Sammlung wurde „für Unterricht und Gottesdienst“ konzipiert, wobei es eigentlich selbstverständlich sein sollte, dass im Unterricht Erlerntes auch im Gottesdienst Verwendung finden kann. Ein Lehrer als Wegweiser durch diese Sammlung ist (leider) für den Unterricht unabdingbar. Die im Satz verwendeten Techniken werden nicht immer sofort offenbar, die Titel der Stücke sind zumeist zu lapidar, um sofort eine tiefere Einsicht in die Satzstruktur oder die Idee des Satzes gewinnen zu können. Ein kleines Verzeichnis der verwendeten Techniken hätte (bei immerhin fünf Heften) helfen können, gleichartige Improvisationen schneller zu finden und diese quasi im Rahmen einer Lerneinheit mit zu betrachten und zu üben. Schade, denn jede der Choralbearbeitungen steht für ein Stück des Weges zur eigenständigen und spontanen Improvisation, aber leider wird kein sinnhafter oder methodischer Zusammenhang hergestellt.
Die größte Schwachstelle der Sammlung ist die Anzahl der pro Wochenlied angebotenen Sätze. Für die unbekannteren oder (in mehrfachem Sinne) „neuen“ Lieder (z. B. Die Heiligen, uns weit voran (EG.E. 27 [EG.E. = Ergänzungsheft zum EG]) oder Damit aus Fremden Freunde werden (EG.E. 31) gibt es zumeist nur ein oder zwei kleine Sätzchen. Bei bekannten Liedern, die im Laufe der Musikgeschichte immer wieder bearbeitet worden sind (z. B. Wachet auf, ruft uns die Stimme, EG 147) gibt es bis zu neun Beispiele.
Gerade für die Lieder, die aus dem EG.E. neu unter die Wochenlieder aufgenommen wurden, hätte man hier eine schmerzliche Lücke füllen können. Viele dieser Lieder gehören zum neuen geistlichen Liedgut, das in seiner Stilistik auch andere und modernere Formen, Techniken und Harmonien vertragen könnte. Hier die eine Chance vertan worden, einem akuten Mangel abzuhelfen.
Insgesamt sind die Bei-Spiele von Hans-Peter Braun jedoch eine rundum empfehlenswerte Edition für den Bereich der cantus firmus-gebundenen Improvisation. Das Spielen und die Lust am Spielen stehen in ihr im Mittelpunkt. Das Zuhören macht Spaß, verspricht Lebendigkeit im Gottesdienst, die von der Orgel her versprüht wird. Eine Sammlung für Praktiker und Neugierige, die mindestens dasselbe Recht hat, auf jeder Orgelbank zu liegen wie das Orgelbuch zum EG von Bärenreiter.
Ralf-Thomas Lindner