Bach to the Future

Olivier Latry an der Cavaillé-Coll-Orgel in Notre-Dame de Paris (Frankreich)

Verlag/Label: la dolce voita, LDV 69 (2019)
erschienen in: organ – Journal für die Orgel 2019/04 , Seite 59

Bewertung: 4 von 5 Pfeifen

„Bach für die Zukunft“, „mit Bach in die Zukunft“, „Back [wie der Name Bachs in Frankreich oder im angelsächsischen Bereich ausgesprochen wird] to the future“ also „zurück in die Zukunft“ – wie soll man das Wortspiel im Titel dieser CD wohl verstehen? Olivier Latrys neue­ste CD, im Januar 2019, also ein gutes Vierteljahr vor dem nicht nur die musikalische Welt erschütternden Großbrand in der Pariser Kathedrale Notre-Dame aufgenommen, wirft einige Fragen auf; ihre Beantwortung geht eher weg von musikhistorischen As­pekten, hin zum Philosophischen, ja Transzendentalen, wie es der Interpret im Booklettext anspricht.
Ist eine Einheit zwischen Komponist, Interpret und Instrument wie ein gleichseitiges Dreieck der Idealfall einer wahrhaft werkgetreuen Wiedergabe, wie es Olivier Latry beschreibt, so muss hier, wie in den meisten Fällen, eine Verlagerung der Gewichtungen vorgenommen werden. Musikalische Schlüsselwerke einer protestantisch-lutherischen Weltsicht, musiziert in einer weltweit den Katholizismus und die Entwicklung der mehrstimmigen Musik repräsentierenden Kathedrale – an einem Instrument, das seit den ersten tradierten Wurzeln von 1402 über Thierry, Clicquot, Cavaillé-Coll bis zur letzten Renovierung 2014 jahrhundertelang den wechselnden Bedürfnissen angepasst wurde –, su­chen geradezu danach, in einem solchen Dreieck Gleichgewichte zu finden. Solche Interpretationsansätze eines weltweit höchst angesehenen Musikers, der sich wiederum der stilgerechten Interpretation von Orgelmusik jeden Genres verschrieben hat, lassen zuerst einmal aufhorchen.
Nicht nur die Auswahl der Bach-Werke auf der CD verwundert, finden sich neben Reißern wie Toccata und Fuge d-Moll BWV 565, Fantasie und Fuge g-Moll 542 und der Passacaglia BWV 582 sowie BWV 572 auch die „kleine“ g-Moll Fuge BWV 578, die Orgelchoräle BWV 721, 727 und 617 und das auf den ersten Blick sperrige Ricercar BWV 1079 aus dem Musikalischen Opfer, das diese Produktion eröffnet: Ein einzelner Prinzipal beginnt in weicher Quasi-Legato-Artikulation, eine Flûte harmonique tritt als zweite Stimme hinzu, dann ein Streicher, ein Hautbois, die Grundstimmen von Cavaillé-Coll mehren sich, die Zungen des geschlossenen Schwellwerks treten nacheinander hinzu, ein ungeheures Crescendo breitet sich in der Kathedrale aus, das nach den immer wieder kammermusikalisch begonnenen verschiedenen Expositionen des Themas wie nach mehreren Anläufen ins Tutti der Orgel mündet: Wo sind wir gelandet? In einer französisch inspirierten Reger-Fuge mit unzähligen fein abgestimmten Aufregistrierungen? In Karl Straubes Bach-Ausgabe? Aber eben nicht in der typischen Phrasierung und Artikulation des 19. Jahrhunderts in der musikalischen Umsetzung!
Wiederholt sich nun dasselbe mit der kleinen g-Moll-Fuge BWV 578? Nein, hier werden in feinsten Nuancen musikalisch sinnvoll kleine Crescendi und Decrescendi eingesetzt, bevor mit der berühmten Toccata und Fuge d-Moll eine regelrechte Bearbeitung aufgenommen wurde. Leopold Stokowskis Orches­terversion des Werks stand dabei Pate, und alle registriertechnischen Kniffe des modernen, 2014 neu eingebauten Spieltischs werden dabei eingesetzt. Symphonisches wird mit Spaltklängen konfrontiert, Läufe werden auf verschiedene Registergruppen uminstrumentiert, ja der Notentext wird verändert, um Pedaleffekte zu erzielen und die repetierenden Noten der rechten Hand im ersten Teil der Toccata verwandeln sich in einen Triller.
Noch konsequenter ist die eigentliche Neukomposition der Fantasie g-Moll BWV 542 von Franz Liszt, zunächst als Klavierwerk gedacht und von Olivier Latry wieder auf die Orgel übertragen. Als solches schon ein grandioser Wurf, wird sie in der kongenialen Registrierung Latrys, die die Orgel wie ein modernes Symphonieorchester behandelt, auf unwiderstehliche Weise dargeboten. (Vor ein paar Wochen habe ich Latry mit dieser Bearbeitung auf „meiner“ Orgel im Herforder Münster live gehört und war von seiner Registrierkunst wie von der musikalischen Ausführung gleichermaßen beeindruckt.) Die Fuge dagegen wird eher klassisch in verschiedenen Plenumsabstufungen musiziert, wobei raffinierte Manual- und Registerwechsel in den Zwischenspielen aufhorchen lassen.
Piéce d’orgue BWV 572 erklingt im majestätischen Grand Plein Jeu der klassisch-barocken Register, die Cavaillé-Coll aus den Vorgänger­instrumenten übernommen hat, wobei gegen Ende des zweiten Teils zuerst fast unmerklich, langsam abgestuft, die Zungen hinzutreten und das grandiose Tutti im verminderten Septakkord auftrumpft, um den letzten Teil in weichen Grundstimmen im Decrescendo ausklingen zu lassen.
Wir alle wissen, dass die große Passacaglia BWV 582 traditionsgemäß im Mixturenplenum ausgeführt worden sein mag und mit Franz Liszt erst der variationsweise Regis­ter- und Klangfarbenwechsel eingeführt wurde. Auf einem passenden historischen Instrument mit ansprechendem, aussagekräftigen Plenum ist das für Zuhörer und Ausführenden durchaus konsequent und akzeptabel, beim Hören von Latrys Version mit den stetigen, immer den musikalischen Aussagen dienen wollenden Registerwechseln, den teils technisch riskanten Hervorhebungen des Themas auf anderen Manualen oder im umregistrierten Pedal kam bei mir heimliche Freude auf: So hatte ich das Stück in meiner Jugend bei einem Meisterschüler Karl Richters einstudiert und immer einmal wieder, entgegen bes­ten Wissens und mit schlechtem Gewissen, ausgeführt.
Wie oben schon bemerkt, artikuliert Latry in sprechendem natürlichen und weich strukturierten Non legato, das in der kolossalen Akustik der Kathedrale Notre-Dame für Klarheit sorgt und keinesfalls der Cantabilität der Musik Bachs abträglich erscheint. Die mu­sikalische Gestaltung ist, wie immer bei Latry, von großer Natürlichkeit und Zeitlosigkeit geprägt und teilt sich unmittelbar mit. Seine Vision, Bachs Musik im Spiegel der verschiedenen Traditionen auf einer großen Kathedralorgel zu musi­zieren, ist natürlich vordergründig nichts für Puristen, aber selbst diese werden bei genauerem Zuhören zumindest überrascht sein.

Stefan Kagl