Bach Family – Complete Organ Music

Die Orgelwerke der Bach-Familie Mit Werken von J. S. Bach, C. P. E. Bach, Heinrich Bach, Johann Bernhard Bach, Johann Christoph Bach, Johann Ernst Bach, Johann Christoph Friedrich Bach, Johann Lorenz Bach, Johann Michael Bach, Wilhelm Friedemann Bach. Stefano Molardi, Luca Scandali und Filippo Turri an insgesamt acht verschiedenen Orgeln in Deutschland und Italien

Verlag/Label: 24 CDs, Brilliant 85803 (2018)
erschienen in: organ – Journal für die Orgel 2019/03 , Seite 60
Bewertung: 3 von 5 Pfeifen
Eine Gesamtaufnahme der Orgelmusik Johann Sebastian Bachs ist – auch trotz gelegentlicher neuer Forschungsergebnisse zu Fragen der Authentizität, die aber das Repertoire nur selten erweitern, sondern eher schmälern – kein echtes Desiderat: Angesichts etwa der Einspielungen von Hans Fagius, Ton Koopman oder der gemeinschaftlichen Gesamtaufnahme Ewald Kooimans und seiner Schüler Gerhard Gnann, Ute Gremmel-Geuchen und Bernhard Klapprott an verschiedenen historischen Orgeln einerseits, aber auch einer ganzen Reihe von Referenzaufnahmen von Marie-Claire Alain, Michel Chapuis, Wolfgang Rübsam oder diverser Einzelkompositionen – jüngeren Datums – von Christian Schmitt oder Anna Pikulska ist zu fragen, welchen Sinn eine weitere Gesamtaufnahme noch hat. Das aufmerksame Hören der mit 24 CDs sehr umfangreichen Gesamteinspielung, die jetzt bei Brilliant Classics erschienen ist, gibt eine instruktive Antwort – oder sogar gleich zwei.
Erstens ist der interpretatorische Ansatz, den Stefano Molardi in seiner bereits 2014 und 2015 im selben Label veröffentlichten Gesamtaufnahme der Orgelwerke Johann Sebastian Bachs bietet, sehr beachtenswert. Der in Cremona geborene und vor allem im deutschsprachigen Raum ausgebildete Organist und Musikwissenschaftler pflegt einen von der historisch informierten Aufführungspraxis geprägten, durchaus virtuosen Zugang zu den Kompositionen Bachs, wenngleich seine Tempowahl in einen überraschend niederschwelligen Bereich führt. Die Anlage der CDs ist überaus überzeugend: Molardi konzipiert in bunter Mischung der Gattungen sehr hörenswerte Aufnahmen, die wegen ihres Abwechslungsreichtums, aber auch der gewählten Orgeln selten langweilig werden.
Aufgenommen wurden die CDs sämtlich an historischen Orgeln des thüringisch-sächsischen Raums, die in mehr oder weniger unmittelbarem Kontakt zu J. S. Bach stehen: Die ersten CDs sind an der Trost-Orgel der Stadtkirche zu Waltershausen entstanden, weitere an der Orgel Zacharias Hildebrandts in der Jacobikirche Sangerhausen und der Thielemann-Orgel in der Dreifaltigkeitskirche Gräfenhain; die Clavier-Übung III und die großen Leipziger Kompositionen hat Molardi an der großen Gottfried-Silbermann-Orgel der Katholischen Hofkirche (Kathedrale) Dresden eingespielt.
Zweitens werden die 15 CDs mit den Orgelwerken des „großen“ J. S. Bachs noch ergänzt durch immerhin neun weitere CDs mit Orgelwerken der Bach-Familie. Im Vordergrund stehen dabei die Kompositionen von zwei Bach-Söhnen: Die Orgelsonaten Carl Philipp Emanuel Bachs spielt Luca Scandali, Professor für Orgel und Komposition in Perugia, mit zupackendem, virtuosem Habitus an der 2007 von Dell’ Orto & Lanzini erbauten Orgel der Kirche Sta-Maria Assunta in Vigliano Biellese, einem Instrument, das sich als Stilkopie an mitteldeutsche Vorbilder anlehnt. Die Aufnahme ist aber nicht nur wegen der sattsam bekannten Sonaten, sondern auch und vor allem wegen der selten zu hörenden Präludien, Fugen und Choralvorspiele empfehlenswert.
Die Werke des Bach-Sohns Wilhelm Friedemann Bach – weniges erhalten Gebliebenes, darunter eine ganze Reihe Fugen und Choralvorspiele – hat Filippo Turri, Titularorganist an der Kathedrale S. Mauro in Cavarzere, an einer Truhenorgel von Patella (1998) sowie an der eher schmal disponierten Orgel (25/II/P), die Francesco Zanin 2007 in der Kirche Sant’ Antonio Abate von Padua gebaut hat, eingespielt – klanglich erheblich „flacher“ als die älteren Aufnahmen Molardis in Mitteldeutschland, die auch die Raumakustik gut wiedergeben, aber dennoch sehr hörenswert. Zu hinterfragen ist aber – auch jenseits der enzyklopädischen Wucht, die hinter der Edition steckt –, warum für diese Kompilation nur diejenigen auf der Orgel eingespielten Werke, die sich auch schon in der vor ein paar Jahren bei Brilliant Classics erschienenen Aufnahme der Werke für Tasteninstrumente befanden, he­rangezogen wurden: Bei vielen Kompositionen Wilhelm Friedemann Bachs ist weder die Provenienz noch die Zuweisung an die Orgel überhaupt klar.
Der Organist der Kompositionen des Großonkels von J. S. Bach, Heinrich Bach (geb. 1615) und dessen Linie der Onkel und der Cousins J. S. Bachs – nämlich Johann Chris­toph Bach I, und Johann Michael Bach, Johann Bernhard Bach und Johann Friedrich Bach I und von dessen Sohn Johann Ernst Bach (II) – sowie eines Praeludien- und Fugenpaars des Bruders von Johann Sebastian, Johann Lorenz Bach, ist wieder Stefano Molardi – in dem jüngsten Teil der Einspielung an einem Instrument der Werkstatt Dell’Orto & Lanzini, nämlich der Orgel in der Parochialkirche St. Thomas in Gesso di Zola Predosa von 2003. Das Instrument ist nach dem Vorbild Gottfried Silbermanns in der Stadtkirche Frauenstein entstanden. Die Aufnahmen der Werke Johann Michael und Johann Chris­toph Bachs wurden an der historischen Volckland-Orgel der Chris­tuskirche Erfurt eingespielt. Im Mittelpunkt stehen hier Choralvorspiele und Variationen, darunter die vielen Sätze der Neumeister-Sammlung aus der Feder Johann Michael Bachs, sowie die Variationszyklen Johann Christoph Bachs wie Thema und Variationen über die Aria „Eberliniana“.
Allerdings ist die Präsentation der so eindrucksvollen wie ansprechenden Interpretationen eher erbärmlich: Über die Instrumente der Aufnahmen erfährt man nichts, weder zu ihrer Geschichte noch zur Disposition (!) geschweige denn zu den – gelegentlich überraschenden – Registrierungen der Organisten. Das mag im Fall der historischen Orgeln in Waltershausen, Dresden, Sangerhausen oder Gräfenhain eher unproblematisch erscheinen – aber wem ist schon die in der Nähe von Mailand beheimatete Orgelbauwerkstatt Dell’Orto & Lanzini näher bekannt?
Der Inhalt des elf (!) Seiten starken Booklets dient im Fall von J. S. Bachs Orgelmusik mit stereotypen Gruppenbeschreibungen und im Fall der anderen Mitglieder der Bach-Familie mit spärlichen Viten, die vollkommen überflüssig sind. Andere Probleme bieten die Papphüllen der CDs: Die zweite CD beginnt keineswegs mit Praeludium und Fuge a-Moll BWV 543, sondern mit dem Paar in D-Dur BWV 532. Zu allem Überfluss sind die Daten, mit denen die CDs zur Entstehung bzw. Weiterentwicklung der bespielten historischen Orgeln aufwarten, zum Teil falsch.
Fazit: Wer zu einem fairen Preis eine weitere, „unterhaltsame“ Gesamtaufnahme der Orgelwerke Johann Sebastian Bachs an historischen Instrumenten mit Orgelkompositionen von anderen Mitgliedern der Bach-Familie als Zugabe erwerben möchte und sich nicht an der miserablen Präsentation stört, dem sei diese Kompilation ans Herz gelegt: Augen zu und Ohren auf!
Birger Petersen