Joan Cabanilles

Ausgewählte Orgelwerke

3 Bände: Spielpartituren, Sammel­bände, Urtextausgabe

Verlag/Label: Bärenreiter BA 11228–30
erschienen in: organ – Journal für die Orgel 2019/01 , Seite 56

Der dritte Band von 2018 beschließt die bei Bärenreiter erschienene Reihe der ausgewählten Orgelwerke von Joan Cabanilles (1644–1712), der Domorganist und zeitweise Domkapellmeister in Valencia war. 13 Kompositionen werden vorgestellt; zählt man jede einzelne Versette (Versos para Salmos, Himno, Missa), handelt es sich um 32 Sätze. Neben den drei Reihen liturgischer Versos bringt der Band mit den Paseos, Pasacalles (3), Galardas (2), Folías und der Jácara mehrheitlich Variationswerke (Diferencias), ergänzt durch zwei Tocatas. Zehn Tientos llenos wurden im Band I und zwölf weitere Tientos (de falsas, de batalla, de contras, partido) im Band II veröffentlicht. Aus dem 940 Versos, 176 Tientos und 13 Diferencias umfassenden Orgelschaffen des Komponisten wurden 35 Titel (54 Einzelstücke) ausgewählt.
Die Musik von Cabanilles scheint weniger terra incognita als vielmehr „terra ignorancia“ zu sein. So ist die Intention der Herausgeber Gerhard Doderer und Miguel Bernal Ripoll, renommierte Fachleute für frühe iberische Musik, begrüßenswert, mit dieser umfangreichen und vielfältigen Werkauswahl dem Meister aus Valencia eine neue aussagekräftige Visitenkarte auszustellen.
Cabanilles’ Musik spricht für sich: Sowohl in der Ausgestaltung großer Formen als auch in der akku­raten kontrapunktischen Arbeit auf knappstem Raum ist sie souveräne Kunst. Es sind die wohldurchdachten Proportionen in den Strukturen und die Ausformulierung zielgerichteter melodischer Linien, gewürzt mit feinen virtuosen Brisen, die staunen machen, en vogue mit den italienischen Entwicklungen – „a modo de Italia“ (II 17) –, die mit iberischen Künsten im Austausch standen. Eine ausgesprochene, an die Engländer des 16. Jahrhunderts gemahnende Vorliebe für Querstände sowie elegante Stimmführung besonders in Stimmpaaren, oft in Verbindung mit pointierten Rhythmen, sind weitere Charakteristika, die den Kompositionsstil beschreiben. Cabanilles entfaltet persönliche expresividad mit mutigen, überraschenden melodischen und harmonischen Wendungen; eine ganz moderne Auffassung der Modalität.
Die Versuchung ist groß, sich an der Diskussion zu beteiligen, wa­rum Cabanilles hierzulande einen so schlechten Stand hat. Von lobenswerten Ausnahmen abgesehen taucht der Barockmeister aus Valencia auf Konzert-, Wettbewerbs- und Prüfungsprogrammen kaum auf – fast so, als ob offizieller Sachverstand doch gerne die „ignorancia“ pflegt.
Richtig dagegen scheinen der pä­dagogische Ansatz und ein behutsames Vorgehen in dieser neuen Cabanilles-Edition zu sein. Mit klaren und überschaubar gehaltenen Informationen zu Leben, Werk, Zeit, Umfeld, musikalischen Quellen und Orgel leiten die Editoren und Autoren mit einem identischen Vorwort-Essay (deutsch, englisch, kas­ti­lisch) die Notentexte der drei Bände ein und nehmen die interessierten Bewohner der Cabanilles-Diaspora bei der Hand. Verschiedene Faksimiles korrespondieren mit den jeweiligen Inhalten. Den Notentexten der Urtextausgabe folgen die Critical Reports, womit die Aspekte Spielpartituren, Sammelbände und Urtextausgabe miteinander zu verbinden gelungen ist.
Nur wenige Schönheitsfehler ha­ben sich eingeschlichen. Die Ausgaben (S. XXIV) und die Bibliografie (S. XXV) sind nicht als selektiv bezeichnet. Bei den Editionen wurde beispielsweise Sally Fortinos Band I (1986) vergessen. Als einzige Edi­tion nennt Faber Early Organ Series Vol. 6, Spain & Portugal unverständlicherweise nicht den bedeutenden Herausgeber James Dalton († 2017). In III. 24, S. 14 wurde die Partido-Anlage übersehen, was zu einem Vorzeichenkonflikt in Takt 11 führt. Der Wunsch, bei der Übertragung der Notentexte möglichst viele Details der historischen Quellen kenntlich zu machen (Critical Report), führt besonders in den Folías zu Unübersichtlichkeiten (Halbe Noten mit Achtelbalken, Viertelnoten ohne Hälse). Die Lösungen in anderen Cabanilles-Ausgaben (z. B. Doderer 1977) kommen in dieser Hinsicht der Spielfreude mehr entgegen.
Besagte Aspekte vermögen nicht die Freude an diesem Konvolut zu schmälern. Qualität und Ideenreichtum der vorgestellten Kompositionen lassen anklingen, warum man Joan Baptiste Josep Cabanilles Barberà gerne den Rang eines europäischen Musikers zuerkennen möchte. In der Verselbstständigung instrumentaler Musik, die ihr eigenes Idiom ausprägt, trägt das Werk des Valencianers „einerseits zukunftsweisende Züge, ohne sich andererseits in traditionsverbundener Weise vom bodenständigen Erbe der Iberia zu lösen“ (S. VI). Eine Visitenkarte mit freundlicher Empfehlung.

Johannes Ring