Johann Speth (1664–1721)

Ars Magna Consoni et Dissoni

Music for Organ. Chiara Minali an der Rekonstruktion einer Orgel aus dem Jahr 1732 in der Pfarrkirche Santa Maria Assunta in Cavalese (Italien); Letizia Butterin, Gregorianischer Gesang

Verlag/Label: 2 CDs, Brilliant 96097 (2022)
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2022/04 , Seite 60

Bewertung: 4 von 5 Pfeifen

In Cavalese steht eine 2011 umfassend restaurierte Orgel (2011) des Meraner Orgelbauers Joseph Balthasar Humpel von 1731/32, mit zwei Ma nualen, 26 Pedalen und 21 klingenden Registern in einer abwechslungsreichen Disposition. Das Book let der vorliegenden CD bietet zwei Abbildungen dieser Orgel, wobei das bessere Foto des (klang-) schönen Instruments im Case hinter der CD-Halterung verborgen ist. Auf diesem Instrument lässt sich trefflich süddeutsche Barockmusik spielen, was Chiara Minali getan hat; sie hat sich der Musik von Johann Speth (1664–1721) angenommen: klar strukturierte und gut fassbare Musik – akkurat musiziert, mit pragmatischer Wahl der Tempi; virtuos, wo es hinpasst, ansonsten würdig, stressfrei; dem Raum angemessen.
Einmal mehr hat sich Brilliant Classics für „forgotten music can live and breathe once more“ lobenswert eingesetzt. Bitte weiter so! Allerdings ist der Web-Werbeslogan – „However, until now there has never been a complete recording of the sole collection which carries his name down to us today“ – nicht zutreffend, negiert er doch die Referenzaufnahme von 1991/92 (Mel chersson / Frieberger, MDG: „leider nicht mehr im Programm“).
Chiara Minali und Letizia Butterin hätten sich den Job an den Tiroler Tasten teilen können, denn beide versierte Künstlerinnen weisen beachtliche Diskografien auf und sind als Organistinnen und Cembalistinnen mit der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts bestens vertraut. Butterin ist außerdem Fachfrau für liturgischen Gesang. Also sitzt Minali in Calvese auf dem Orgelbock, während ihre Kollegin in der Kirche San Briccio in Lavagno, 98 Kilometer entfernt, 48 Magnificat-Verse in das Mikrofon singt. Miteinander musizieren, ohne sich zu treffen: wahrlich globalistisch.
Von Johann Speth kennen wir nur die Ars Magna Consoni et Dis soni … Organisch-Instrumentalischer Kunst-, Zier- und Lust-Garten, ein Orgelbuch, das 1693, nach Speths erfolgreicher Bewerbung als Augsburger Domorganist, quasi als Referenz im Druck erschien; wohl auch als Reminiszenz an den Altaugsburger und Nürnberger Lust-Gärtner Hans Leo Haßler. Der 1. Teil des Buches bringt zehn Toccaten mit der wirkungsvollen Subline „Musicalische Blumenfelder“. Teil 2 ist ein Apparat mit Versetten für den Alternatim-Vortrag des Magnificats in den acht Kirchentönen (Praeambulum, sechs Verse, Finale). Drei Variationsreihen / Partiten mit jeweils sechs Sätzen bilden den finalen Teil. Speths Werkkonzept musste sich wohl pragmatischen Gründen der Track-Verteilung unterordnen; so folgen die Partiten den Toccaten. Die acht Magnificats sind auf der zweiten CD.
Bei vielen „alten“ Komponisten ist die Quellenlage dürftig und vielleicht sogar widersprüchlich (oder deren Interpretation); es bleibt der wohlwollende Blick auf das Wenige, was man hat, und auf das Umfeld. Zum Ausklang des 17. Jahrhunderts erschienen in dichter Folge drei Bücher mit Claviermusik in Augsburg im Druck. In gewisser Weise scheint die Ars magna (1693) Franz Xaver Anton Murschhausers Op. 1 (1696) und Johann Caspar Ferdinand Fischers Op. 2 (1698, 2. Auflage) beeinflusst zu haben, sei es durch den Titel, das Repertoire, die Struktur oder durch das Instrumentarium. – Doch wer hat Speth beeinflusst? Die Antwort darauf ist einfach: Bella Italia! Zu einfach, denn soweit wir wissen, war er nie in Italien. Als Transmitter kann zunächst ganz allgemein die gründ liche klös terliche Ausbildung gesehen werden, die Speth in seinem Geburtsort Speinshart erhielt – ein Schulleben, das in musikalischer Hinsicht Anregungen aus Italien vermitteln konnte. Außerdem gab es einen Wegweiser, eine Orgelschule von 1668 mit Versetten in den acht Kirchentonarten. Soweit bekannt, erschien diese Orgelschule zusammen mit der Ars cantandi von Giacomo Carissimi (1605–74) als Vermehrter und nun zum zweytenmal in Druck befoerderter kurtzer jedoch gruendlicher Wegweiser: vermittelst welches man nicht allein aus dem Grund d. Kunst, d. Orgel recht zu schlagen, sowol was d. General-Baß, als auch was zu dem Gregorianischen Choral-Gesang erfordert wird, erlernen 1692 in Augsburg im Druck. Und genau hier knüpfen Speths Magnificat-Vertonungen an.
Vermutlich hatte der Carissimi-Schüler Philipp Jakob Baudrexel (1627–91) die Singschule Ars cantandi ins Deutsche übersetzt. Als Komponist der Orgelmusik im Wegweiser wird gleichfalls Baudrexel vermutet (Walter 1964, Büchele 2021). 1651 wurde er zum Domkapellmeis ter in Augsburg ernannt, zeitgleich mit dem Domorganisten Johann Melchior Gletle (1626–83), einem der Amtsvorgänger Johann Speths.
Zwischen den Magnificat-Kompositionen und den Partiten hat Speth eine Überleitung eingeschoben: „Ende der acht Magnificat. Folgen nun unterschiedliche Arien mit Variationen, Passagagli und anderen annehmliche Galanterien.“ Offensichtlich weist Speth hier auf die Passagagli von Bernardo Pasquini hin, in denen sich kurze (Lied-) Variationssätze und die Passacaglia als Konzept verbinden. Konkret wird Speths Italienbegeisterung in der Partite diverse sopra l’aria detta la Pasquina (Disk 1,12). Sicher war der Augsburger Domorganist mit der Kunst des Römers bestens vertraut. Zitate aus Kompositionen von Alessandro Poglietti und Bernardo Storace addieren weitere Italienbezüge. Speths augenfälligster Italienbezug, im Rang einer Huldigung, ist der Werktitel selbst, der an die Musurgia Universalis, sive ars magna consoni et dissoni des Universalgelehrten Athanasius Kircher (Rom 1650) anknüpft; von einem Kontakt Baudrexels mit Kircher ab 1644 ist auszugehen.
Als Beleg einer starken musikalischen Rom-Augsburg-Achse ist Johann Speths Ars Magna eine kleine Fundgrube für die Aufführungspraxis und hat außerdem den Rang eines Kompendiums. Der Komponist gibt in der Toccata quarta und sexta Forte- und Piano-Zeichen an, was Minali mit der zweimanualigen Cavaleser Orgel berücksichtigt. Im „Vorbericht“ erklärt der Komponist, dass viele Organisten nur über kleine, pedallose Instrumente verfügen. So seine Empfehlung, „… muß dahero der Exercirende auf dem Instrument sich mit der linken Hand helffen / und solches ersetzen so vil möglich …“. Speth nennt „Instrument (Orgel) oder Clavicordium“ in einem Atemzug. Und tatsächlich: Ein Teil der Toccaten und alle Partiten eignen sich für besaitete Tasteninstrumente. Damit trug er den häuslichen Gegebenheiten der Berufsmusiker und des musizierenden Bürgertums Rechnung.

Musikhistorisch ist die Ars Magna ein Glücksfall: Was im „Vorbericht“ zu lesen ist, sind keine Gemeinplätze – das ist Biografie. So ist Johann Speth musikalisch aufgewachsen; so sind Große groß geworden. Rührend, die 360 Jahre alten Worte des Meisters zu lesen, der mit klaren und knappen deutschen Worten, jenseits jeder Bigotterie, erklärt, was es zur musikalischen Kunst braucht: „Hand, Gehör, Verstand“, „langsam, bedachtsam, und mit allem Fleiß geübet …; … also auch von kunst=reichen und guten vorgelegten Exemplen / kunst= reiche und gute Organisten gerathen / und hervor kommen …“. Das war der Weg des Oberpfälzers zu einem professionellen Musiker und guten Komponisten.
Manches aus Speths „Vorbericht“ bleibt trotz „Historically informed performance … and scholarly care over sources and styles“ leider unbeachtet, doch lädt die schöne Aufnahme ein zum Wiederhören, selber Spielen und Singen und zur Beschäftigung mit barocker Tastenmusik zwischen dem Weißwurstäquator und den Alpen.

Johannes Ring