Konrad Küster
Arp Schnitger
Orgelbauer – Klangarchitekt – Vordenker
Die für damalige Verhältnisse fast repräsentativ ausgestattete Monografie über Arp Schnitger (1648–1719) von Gustav Fock aus dem Jahr 1974 basiert größtenteils auf den verdienstvollen Forschungen des Autors bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Deshalb war es nun höchste Zeit dafür, dass der aktuelle Kenntnisstand zu diesem Schule bildenden und bis heute Maßstäbe setzenden Orgelbauer dargestellt wird, dies umso mehr, da die erhaltene Substanz vielerorts zwischenzeitlich verändert wurde.
Konrad Küster folgt in seinem neuen, etwas handlicheren Buch dem bewährten britischen Schema „chronicle and work“, indem er das Schaffen des wohl bedeutendsten norddeutschen Orgel-Unternehmers Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts im Kontext der jeweiligen individuellen Umstände kommentiert. Dabei zieht er nicht nur jene Fakten und Dokumente heran, die unmittelbar mit den einzelnen Projekten zusammenhängen; sehr hilfreich ist auch immer wieder der Blick auf die geopolitischen Umstände, Herrschaftsgebiete und Grenzverläufe.
Rasch wird bei der Lektüre deutlich, dass es die Schnitger-Orgel, wie sie sich viele noch immer als Ideal eines (großen) Barockinstruments, ja der Orgel schlechthin, vorstellen, nie gegeben hat. Bei den wohl über 150 „Baustellen“, von denen die meisten im Gebiet um Groningen (Niederlande) und zwischen Elbe und Weser liegen, müsste genau ermittelt werden, welchen Anteil Arp Schnitger selbst tatsächlich daran hatte: mitarbeitend während seiner Lehrzeit bei Berendt Hueß, später Konzeption bei Ausführung durch eigene Mitarbeiter oder Subunternehmer. Oft baute Schnitger bestehende Instrumente um oder erweiterte sie. Überdies differenzierte der Meister seine Entwürfe stärker als vergleichbare Kollegen nach den Wünschen und Anforderungen der Auftraggeber: Eine Stadtorgel wie etwa in der Cosmae-Kirche in Stade oder der Hauptkirche St. Jacobi in Hamburg folgt ganz anderen Konstruktionsprinzipien und Klangvorstellungen als etwa die Kompaktversion in Dedesdorf, die zugleich die Folie für die Exportvariante bildete. Bei allen seinen Orgeltypen achtete Schnitger jedoch darauf, möglichst unterschiedlich wahrnehmbare Klangkörper zu schaffen; das später durch die Orgelbewegung postulierte „Werkprinzip“ scheint ihn vor allem nach 1700 wenig interessiert zu haben.
Küster geht anhand der vorhandenen Bausubstanz und Schriftstücke den Entwicklungen in der weit verzweigten und oft parallel arbeitenden Werkstatt nach. Einbezogen werden in die Darstellung zum Glück auch die untergegangenen Werke, soweit dies freilich – etwa anhand historischer Fotos – möglich ist. Dabei wäre es manchmal hilfreich gewesen, die eine oder andere Disposition zu zitieren. Diejenigen Kapitel, die sich überwiegend mit technischen Fragen befassen, sind durch Grauraster als Exkurse gekennzeichnet. Einige Fotos sind etwas zu klein ausgefallen, um Details zu erkennen.
Besonders lesenswert sind Küsters Ausführungen zur Musikpraxis: So wird einmal mehr ins Bewusstsein gerückt, dass die Orgel im überwiegend protestantischen Norddeutschland noch sehr lange in die römisch-lateinische Liturgie eingebunden war und erst ab dem 17. Jahrhundert allmählich zur Begleitung des Gemeindegesangs verwendet wurde. Aus der reformierten Tradition erfahren wir, dass die mitunter ausgedehnten Variationswerke über „Psalmen“ (= Liedmelodien, nicht nur Psalmtöne) auch eine didaktische Funktion hatten: Die Weisen sollten der a cappella singenden Gemeinde damit nahe gebracht werden. Unterschätzt wird nach wie vor der Anteil der „großen“ Orgel an der Ensemblemusik, wofür Küster handfeste Belege wie etwa die Notenpulte an der Emporenbrüstung in der Alten Kirche auf Pellworm anführt. Gitterwerk sollte die aktiven Musiker verbergen und das Erlebnis unsichtbarer, himmlischer Musik verstärken. Schließlich weist Küster darauf hin, dass nur ein Bruchteil der Orgelmusik schriftlich fixiert wurde; nicht mehr greifbar ist all das, was auf den Orgeln über Jahrhunderte extemporiert wurde, an denen Schnitger und seine Mitarbeiter Hand angelegt hatten.
So bleibt nur die Hoffnung, dass die rund dreißig weitgehend in damaliger Gestalt erhaltenen Instrumente dieser Werkstatt uns weiterhin zu fantasievollem musikalischen Schaffen inspirieren. Dazu müssen sie jedoch erhalten und gepflegt werden. Küster schließt seine facettenreiche Zusammenschau der Fakten denn auch mit dem Appell, die Orgelkunst im Küstengebiet nicht isoliert zu betrachten, sondern als Teil der gesamten Kultur in den Marschgebieten. „Wer nicht deichen will, muss weichen“, so die Lebensweisheit in vielen immer wieder von schweren Flutkatastrophen betroffenen Orten. Dies gilt erst recht in Zeiten des Klimawandels und steigender Meeresspiegel.
Markus Zimmermann