Archetypen – Bilder und Symbole in der Welt der Orgelmusik

Werke von Dieterich Buxtehude, Walter Kraft, György Ligeti, J. S. Bach, Heinrich Scheidmann, Pierre du Mage, Cèsar Franck, Charles-Marie Widor

Verlag/Label: Ambiente, ACD 2016 (2007)
erschienen in: organ 2009/04 , Seite 51

4 CDs, CD-ROM-Teil mit ausführlichen Analysen und Bemerkungen zum Programm

3 Pfeifen

Spekulativ ist das inhaltliche Konzept der Orgelmusik-Anthologie, die die beiden Kirchenmusiker Hans Christoph Becker-Foss (Hameln) und Karl Wurm (Duderstadt) unter dem Titel Archetypen zusammenge­stellt haben. Die „Hauptstationen des Weges Christi“ sehen sie gleichermaßen in Bachs drei großen Leipziger Präludien und Fugen in h, e und C versinnbildlicht wie in den drei „Chorälen“ César Francks und in Widors zweiter Orgelsinfonie (das weit näher liegende Beispiel von Duprés Sinfonie-Passion sparen sie merkwürdigerweise aus). Als In­spirationsquelle Bachs beziehen sie noch Dietrich Buxtehude ein, der mit drei Choralvorspielen und seinem fis-Moll-Präludium vertreten ist. Neben die christologische Deutung lassen Becker-Foss und Wurm bei Bachs h-Moll- und e-Moll-Werk das Bild vom „Drachenkampf“ treten, so dass zusätzlich das Triptychon St. Michael von Walter Kraft einbezogen werden kann, und vom „Dra­chenkampf“ schlagen sie noch die Brücke zum Magnificat-Vers „Er übet Gewalt“, so dass weiter zwei Magnificat-Bearbeitungen von Hein­rich Scheidemann und Pierre du Mage in ihre Werkauswahl gelangen.
Als sei es mit solchen Mehrfach-Dechiffrierungen nicht genug, geben die beiden Organisten ihrer Werkfolge noch einen zusätzlichen historischen Rahmen, den sie bei einer Estampie des Robertsbridge Codex (als „Anfang/Ordnung“) aus dem frühen 14. Jahrhundert beginnen und mit György Ligetis Volumi­na (zugleich symbolisch für „Ende/ Chaos“) als zwar nicht jüngstem, aber avanciertestem Stück ihrer Einspielung enden lassen.
Wie weit solche inhaltlichen Zuord­nungen triftig und nachvollziehbar sind, muss dem Hörer überlassen bleiben, der ausführlichere Interpre­tationshinweise der Herausgeber in puncto Zahlensymbolik und Figurenlehre in Form einer PDF-Datei im CD-ROM-Teil der vierten CD nachlesen kann.
Am jeweils eigenen Instrument und dem des Partners realisieren die beiden Organisten ihre Überlegungen in Tönen. Die 1977 von Jürgen Arend in historischem Geist erbaute, mit 28 Registern ausgestattete Orgel in St. Servatius (Duderstadt) mit ihrer leicht modifizierten Werckmeister III-Stimmung setzen sie sinnvollerweise vor allem für die älteren Kompositionen ein, doch auch für Ligeti. Der romantischen Klangsprache von César Francks drei Chorälen und Widors 2. Orgelsinfonie entspricht dagegen weit besser die mit Schwellwerk ausgestattete, 1966 entstandene Beckerath-Orgel in der Hamelner Marktkirche, ein dem Ideal der „Universalorgel“ verpflichtetes Instrument, weshalb neben den Werken der französischen Orgelliteratur auch einzelne Stücke von Bach und Buxtehude in Hameln aufgenommen wurden.
Bemerkenswert, wie die inhaltliche Deutung auf die klangliche Reali­sation zurückwirkt, etwa bei Bux­tehudes strukturbezogen registrier-ten Choralvorspielen oder in Bachs e-Moll-Werk, wo „Drachen“-, „Engels“- und „Michaels“-Teile klanglich voneinander abgehoben werden. Lobenswert ist auch die Aufnahmetechnik, die den Einspielungen klare Kontur gibt und die Linienführung gut durchhörbar macht.

Gerhard Dietel