AGGREGATE
new works for automated pipe organs. gamut inc
5 von 5 Pfeifen
Die anfangs vertraut klingende Orgel verwandelt sich im weiteren Verlauf in eine monströse Apparatur jenseits aller physiognomischen Limitierungen durch menschliche Spieler. Das sagenhaft vielstimmig und schnell rotierende Getriebe zerfällt erst am Ende wieder zu Einzeltönen. Der Titel von Hampus Lindwalls AFK ist eine Abkürzung aus der Gamer-Szene für „Away From Keyboard“. Die drei Buchstaben benennen programmatisch das Prinzip aller 15 Stücke der Doppel-CD: Denn hier werden sämtliche Manuale, Pedale, Trakturen, Register und Schweller komplett automatisch von Computerprogrammen gesteuert.
Alle Einspielungen entstanden bei den Berliner Aggregate-Festivals 2021 und 2022 auf den Orgeln der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, Auenkirche und Kapelle der Versöhnung. Initiiert und durchgeführt wurde die Veranstaltung von gamut inc, dem Duo von Marion Wörle und Maciej Śledziecki, die seit 2011 interdisziplinäre Musik- und Theaterprojekte über Maschinen, Roboter und Digitalisierung entwickeln. In Aggregat 11 überlagern sie sukzessive immer mehr Ton- und Zeitschichten zu permanent sich wandelnden Klangwellen verschiedener Lage, Ausdehnung und Stärke. Filigranes Kräuseln eskaliert so zum hypnotisch kreisenden Sog. Und die Polyphonie unterschiedlicher Tempo- und Melodielinien akkumuliert zu hyperaktivem Wuseln und Blitzen wie in einem digital animierten Ameisenhaufen oder Hyperschaltraum.
Beide CDs eröffnet jeweils eine Study for Player Piano von Conlon Nancarrow, die gamut inc als Hommage für den Pionier der vollmechanischen Klaviermusik für MIDI-Orgel adaptierten. Seth Horvitz’ Study no. 0 entfaltet sanft wogende Klangflächen von behutsam wechselnder Harmonik und Farbe. Study no. 1 desselben US-amerikanischen Komponisten beschleunigt Arpeggien zu dichten Glissandi, die wild durch den Tonraum zischen und sich durch Verschiebungen wechselseitig zu Glissandi zweiten Grades verdichten. Study no. 99 überlagert schließlich Loops und Repetitionen zu pulsierender Minimal Music mit wechselnden Patterns, die real akustisch und wie Phantomstimmen auf- und untertauchen.
Obwohl die Orgel längst vom elektrischen Windmotor beatmet wird und nun auch vom Computer als automatisch gesteuerte Musikmaschine transhumane Virtuositäts- und Komplexitätsgrade erreicht, bleibt sie ein Blasinstrument, das direkt Luft bewegt und in den Pfeifen in Schwingung versetzt. Die damit entfaltete ganz eigene Klang-, Raum und Abstrahlcharakteristik ist selbst noch den Aufnahmen anzuhören. Bei Live-Aufführungen mancher repetitiver und droneartiger Stücke mag man zusätzlich stehende Wellen im Raum erleben, was die Stereo-Wiedergabe zumindest erahnen lässt. Genau diese Besonderheiten machen die Orgel angesichts der Omnipräsenz digital generierter und von technisch reproduzierter Musik gegenwärtig für immer mehr Komponierende und Hörende wieder aktuell und faszinierend – egal ob sie von Menschen oder Computer bespielt wird.
Rainer Nonnenmann