Johann Christian Heinrich Rinck (1770–1846)

12 fugierte Nachspiele für die Orgel op. 48

Neuausgabe von Christoph Dohr

Verlag/Label: Edition Dohr 20155
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2021/03 , Seite 54

Der 1770 geborene Johann Chris­tian Heinrich Rinck erhielt früh ers­ten Orgelunterricht bei seinem Vater und wurde im Alter von 16 Jahren Schüler Johann Christian Kittels, war also Enkelschüler Johann Sebas­tian Bachs und berief sich zeitlebens auf die mitteldeutsche Bach-Tradition. Sein Lehrer setzte den Jungen bald als Vertretungsorga­nisten in der Predigerkirche in Erfurt ein; Rinck wurde be­reits im Alter von 19 Jahren zunächst als Stadtorganist nach Gießen verpflichtet, später als Universitätsmusikdirektor, und folgte 1805 einem Ruf an die Stadtkirche Darm­stadt, wo er 1813 zum Hoforganisten an der Schlosskirche und 1817 zum „wirklichen Kammermusikus“ des Großherzogs von Hessen-Darmstadt ernannt werden sollte. Sein Tod 1846 beendete eine weiträumige Wirksamkeit vor allem als angesehener Orgelrevisor und Orgelpädagoge. Neben den umfangreichen Sammlungen des 19. Jahrhunderts, in denen Rinck meist mit kleineren Kompositionen vertreten ist, war vor allem seine erstmals zwischen 1819 und 1821 publizierte Pracktische Orgelschule op. 55 von gro­­ßer Wirkung, zumal sie auf Brei­te in der Ausbildung zielt und da­rüber hinaus als Quelle für viele originäre Orgelkompositionen des fleißigen Rinck dient.
Rincks 175. Todestag galt es im Jahr 2021 zu begehen – unmittelbar nach der Feier seines 250. Geburtstags im Vorjahr, das allerdings sowohl durch die Feierlichkeiten für den Zeitgenossen Beethoven überschattet wurde als auch durch die Pandemie. Die Feierlichkeiten waren aber schon 2019 und 2020 auch Grund genug für den Verlag Chris­toph Dohr, der ohnehin für eine ganze Reihe von Neuausgaben der Werke Rincks verantwortlich zeichnet, erneut einiges bislang eher Unbekannte oder schwer Zugängliche ans Licht zu heben.
Mehrere der von Rinck publizierten Sammlungen sind wie die Orgelschule explizite Lehrwerke, so Die drei ersten Monate auf der Orgel op. 121, 1838 bei Simrock erschienen – eine Sammlung, die im Vergleich zum verbreiteten Hauptwerk auch „Vorschule“ genannt wurde. Dem Vorwort zufolge, das Rinck der Erstausgabe beigegeben hat, glaubte der Verfasser „hier auch noch ein Scherflein beizutragen, dass der Anfänger im Orgelspiele von Stufe zu Stufe auf dem sichersten und kürzesten Wege zum Ziele gelangen könne“: Hier werden Anfängern oh­ne nennenswerte pianistische Vorkenntnisse in steigendem Schwierigkeitsgrad in insgesamt sechs Teilen zunächst manualiter zwei- und drei­stimmige Sätze, dann Pedalsoli und schließlich pedaliter zu spielende vierstimmige Sätze angeboten.
Der Schwierigkeitsgrad zumal der ersten Übungen, die noch wenig Kenntnisse im Klavier- geschweige denn im Pedalspiel voraussetzen, wird nur behutsam erhöht – allerdings verzichtet Rinck auch nicht auf vielfältige, vor allem motorisch kluge technische Übungen. Die Neu­ausgabe von Reinhard Kluth hat Rincks kundiges Vorwort behutsam der gegenwärtig üblichen Rechtschreibung angepasst und vor allem die Ausgabe in einen gut lesbaren, großzügigen Notentext verwandelt. Dabei hat die Neuausgabe die Notation der Erstausgabe, die im letzten Drittel des Bandes in der Regel zwei Systeme mit Hinweisen auf eine potenzielle Pedalstimme vorsieht, belassen. Für AnfängerInnen auch ohne Klavierkenntnisse ist so eine schöne, leicht anschlussfähige Orgelschule mit historischem Hintergrund jetzt für wenig Geld leicht erreichbar; der Untertitel „eigens komponiert als eine leichte Einleitung dieses erhabene Instrument spielen zu lernen“ trifft es.
Die 12 Orgelstücke verschiedenster Art op. 12 sind gerade für OrgelschülerInnen eine interessante Ergänzung des Repertoires, aber auch grundsätzlich für Gottesdienst und Konzert eine willkommene Bereicherung: Die freien Kompositionen mit Titeln wie Mit sanften Stimmen oder Für volle Orgel haben einen eher geringen Schwierigkeitsgrad, aber große Wirkung und präsentieren in wunderbarer Weise die stilis­tischen Spezifika, die Rincks Schaffen so prägen.
Die von Christoph Dohr selbst vorgelegte Neuausgabe folgt dem Erstdruck des Werks insofern, als alle Kompositionen – auch die ausdrücklich pedaliter zu gestaltenden – „aus Gründen der Urtexttreue“ auf zwei Systemen wiedergegeben werden. Diese sparsamere Publikationsweise, die laut Vorwort des He­rausgebers vor allem deswegen so verbreitet war, weil sie den Papierverbrauch um gut 50 Prozent eindämmen konnte, widerspricht ausdrücklich dem Wunsch des Komponisten, der eine Separierung der Pedalstimme vorgeschlagen hatte. Tatsächlich ist im Satz Rincks trotz der vielen Hinweise auf Pedal- oder Manualgebrauch auch nicht immer ganz klar, welche Stimme denn nun das Pedal übernehmen soll; der He­rausgeber hilft hier mit eigenen Vorschlägen. Darüber hi­naus ist im Gegensatz zur Erstausgabe die Stimmführung der Sätze klarer erkennbar. Vorbereitet hat diese Neuausgabe Reinhard Kluth, der allerdings im Juli 2020 verstorben ist.
Ungewöhnlich wirkt das hohe Maß an Doppelpedal in diesen Sätzen – den vornehmlich oft eher schwach besetzten Pedalwerken der Instrumente, an denen Rinck wirkte, geschuldet. Auch hier ist ein behutsames Eingreifen der InterpretInnen sinnvoll. Dies gilt ebenso für die von Christoph Dohr betreute Neuausgabe der 12 fugierten Nachspiele op. 48 – eine gut spielbare Sammlung von teilweise sehr konzertanten Präludien mit in der Regel vierstimmigen Fugen.
Anders als bei op. 12 hat sich Dohr hier für eine Wiedergabe auf drei Systemen mit einer separierten Pedalstimme entschieden, was dem Herausgeber so einiges an (Vor-) Entscheidungen abnötigte und den InterpretInnen wiederum weniger Freiheiten lässt. Und auch wenn diese Druckversion die dem Komponisten zuträglichere sein mag: In der leicht über Online-Quellen verfügbaren Erstausgabe ist ersichtlich, dass eigentlich jedes der 12 Nachspiele exakt zwei Seiten lang ist … In der Neuausgabe kommt es so in vielen Fällen zu unglücklichen Wendestellen. Ein Versehen dürfte allerdings sein, dass auch zu dieser Ausgabe dasselbe Vorwort von Rainer Goede erscheint wie zu op. 12 – und deshalb die LeserInnen wenig über die Genese der Sammlung von Fugen erfahren. Trotzdem gilt für beide Sammlungen eine unbedingte Empfehlung!

Birger Petersen