Widor & Vierne

Iveta Apkalna an der Konzertorgel des National Kaohsiung Center for the Arts, Weiwuying (Taiwan)

Verlag/Label: Berlin Classics (2020)
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2020/04 , Seite 56

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Superlative über Superlative: in Kao­hsiung, einer von nicht weniger als drei Millionen Menschen bewohnten Metropole an der Südwestspitze Taiwans, steht das größte Kulturzentrum Asiens mit Konzertsaal, Opern- und Schauspielhaus, Kammermusik- und Kongressaal, Probenräumen und Open-Air-Spielstätte. Und dort steht auch die größte Orgel des Landes: 127 Register auf fünf Manualen aus dem Hause Klais in Bonn, im Oktober 2018 eingeweiht. Iveta Apkalna präsentiert uns dieses Instrument. Mit echten „Orgelschlagern“: Widors Fünfter, Viernes Dritter. Sinfonische Romantik aus Frankreich also. Nun gut: Darauf hat die Welt sicher nicht gewartet. Denn beide sinfonische Riesen sind sattsam und in oft absolut perfekter Weise konserviert. Und – man muss es gleich zu Beginn sagen – sicher weitaus überzeugender als in diesem Fall.
Wobei ganz klar und deutlich festzuhalten ist: Iveta Apkalna und ihre Kunst des Orgelspiels ist ganz generell über jeden, aber auch jeden Zweifel erhaben. Sowohl im Live-Konzert als auch auf Konserve liefert diese Ausnahme-Interpretin seit Jahren Orgelkultur allerfeinster Qualität. So auch auf dieser Aufnahme. Was hier allerdings auffällt: Da passt etwas nicht ganz zusammen! Widor und Vierne auf einem Konzertsaal-Instrument riesigen Ausmaßes, dem jedoch jeder Charme abgeht. Die Orgel möchte französisch-romantisch sein – doch bleibt dies eine pure Behauptung. Das Poesievolle, das liebliche Kolorit? Warme, schmeichelhafte Farben? Viel davon ist hier nicht zu spüren. Nicht in Widors Oboen-Melodie im „Allegro cantabile“, nicht in Viernes „Adagio“ mit Grundstimmen und Voix céleste. Das klingt einfach hölzern, trocken, ja steril. Wie schade. Selbst Begleitstimmen wie 8’- und 4’-Fuß-Flöten muten an, als kämen sie – mit Verlaub – aus einer norddeutschen Barockkirche.
Vielleicht hätte Iveta Apkalna für die Präsentation dieser „sinfonischen“ Orgel schlicht und einfach ein ganz anderes Programm wählen sollen: Buxtehude, Genzmer, Johann Nepomuk David, Hermann Schroe­der – oder Bach. Jedenfalls Musik, in der es um klare, gläserne Konturen geht, nicht um Schwelgerisches, Süffiges.
Nach den Widor- und Vierne-Schwergewichten gibt es (quasi als Zugabe) Johann Sebastian Bachs „Schafe können sicher weiden“ – leider auch enttäuschend, weil so harmlos, nichtssagend, belanglos.
Apkalna, Titularorganistin der Hamburger Elbphilharmonie, war auch die Erste, die die neue Orgel eben dieses Hauses vorgestellt hat (vgl. organ 1/2019) – mit einem unglaublich spannenden Pro­gramm, das markante Zeichen für Orgelmusik im 21. Jahrhundert gesetzt hat. Eine vergleichbar innovative und unkonventionelle Vorstellung der Orgel in Kaohsiung wäre gewiss interessant gewesen. Stattdessen Altbekanntes auf einer wenig sinfonisch klingenden Orgel in einer orgelfeindlich trockenen Akus­tik – wenn auch perfekt und rundum musikantisch gespielt.

Christoph Schulte im Walde