Johannes Brahms
Werke für Orgel
hg. von George S. Bozarth
In einer Zeit, in der Musikverlage sich, notgedrungen, weitgehend vom Papiergeschäft zurückziehen, gerne POD (print of demand) gedruckt wird und Noten digital angeboten werden, mutet diese Ausgabe der Brahmsschen Orgelwerke auf eine beinahe rührende Weise fast anachronistisch an. Im längst angebrochenen Zeitalter der Jet-Violinistinnen und ICE-Pianisten reisen Virtuosen aus praktischen Gründen gern mit ihrem iPad, das alle benötigten Noten gespeichert hat und jederzeit den Zugriff auf alle möglichen Werke gestattet, ohne sich mit einem Koffer voller Druckerzeugnisse abmühen zu müssen.
Nicht so, im vorliegenden Fall, der Münchener Henle-Verlag, der als einer der ganz wenigen lange Zeit die Noten noch stechen ließ, was ein äußerst klares Erscheinungsbild liefert. Man kann fast konstatieren, dass diese Ausgabe drucktechnisch und vom Layout her luxuriös ist, so übersichtlich sind die 73 Seiten gestaltet. Allein für die Incipits spendet der Verlag zwei locker gestreute Seiten. Das Vorwort und der kritische Bericht (auch in Englisch und Französisch) sind ebenso großzügig gedruckt.
Dabei erfährt man einiges über Brahms Verhältnis zur Orgel: Mitte der 1850er Jahre nahm der Komponist Orgelunterricht, sozusagen ein Kollateralergebnis seiner intensiven Kontrapunktstudien. In dieser Zeit entstanden bereits einige Orgelwerke. Die musikalisch tiefen und zudem reptertoiregeschichtlich hoch bedeutenden Elf Choralvorspiele op. 122 schrieb er allerdings kurz vor bzw. nach dem Tod seiner geliebten Freundin Clara Schumann. Es sind, knapp ein Jahr vor seinem eigenen Tod, seine letzten Werke überhaupt.
Bereits 1927 hat der Verlag Breitkopf die Brahmsschen Orgelwerke in einer sorgfältigen Ausgabe im Hochformat angeboten. Zum 150. Geburtstag des Komponisten ließ er 1983 eine revidierte, vom Nürnberger Avantgarde-Apostel Werner Jacob durchgesehene Ausgabe im Querformat folgen. Nun hat sich der Münchner Henle-Verlag an eine revidierte Neuausgabe im Querformat (sorgfältig gebunden, nicht mit der unpraktischen Ringbindung, die die Seiten gern ausreißen lässt) gewagt. Wie gewohnt bei Henle (gegründet 1948) erscheint die Ausgabe, die auf einer älteren von 1987 basiert, als Urtext und drucktechnisch hervorragend. Henle bzw. der Herausgeber Bozarth bieten darüber hinaus Frühfassungen bzw. Alternativen zu einigen Stücken, sofern sie auffindbar waren, die im Anhang abgedruckt sind. So kann man am Spieltisch vergleichen und muss sich keiner Beilage-CD bedienen; denn nicht jeder/jede hat einen Laptop oder einen Zwergrechner an der Orgel gleich zur Hand.
Die neue Henle-Ausgabe ist das überzeugende Beispiel eines inhaltlich wie äußerlich exzellenten und außerordentlich übersichtlichen Notendrucks. Sie enthält selbstverständlich alle Orgelwerke des großen deutschen Romantikers. Dass Praeludium und Fuge a-Moll hier nur auf zwei Systemen notiert erscheint, also ohne eigenes Pedalsystem, bleibt allerdings das ungelöste Rätsel von Verlag bzw. Herausgeber.
Die broschierte Ausgabe kostet 22 Euro, die wissenschaftliche Ausgabe (Leinen) mit vollständigem Kritischen Bericht 140 Euro. Sehr erfreulich und absolut zu empfehlen!
Klaus Uwe Ludwig