Liszt, Franz

Von der Wiege bis zum Grabe

Symphonische Dichtung. Bearbeitung für Orgel solo von Harald Feller

Verlag/Label: Schott Music 2012
erschienen in: organ 2012/03 , Seite 59

Unter Liszts Sinfonischen Dichtungen nimmt die letzte (13.), zugleich auch das letzte Orchesterwerk des Komponisten überhaupt, einen singulären Rang ein. In den Jahren 1881/82 in Rom komponiert, nimmt sie Bezug auf die gleichnamige Zeichnung (im französischen Originaltitel: Du berceau jusqu’au cercuil) des befreundeten ungarischen Malers Mihály Zichy. Die hier obwaltende, nachgerade „asketische“ Ton- und Klanggebung steht ganz und gar im Gegensatz zu den über zwei Jahrzehnte zuvor entstandenen symphonischen Tonpoemen. So wird das übliche Satzmodell mit der letzten, eher atypischen Vertreterin dieser Liszt’schen Paradegattung transzendiert, Tonarten sind funktional kaum mehr fixierbar, die Harmonik für die Entstehungszeit zukunftsweisend und die Instrumentation dabei teils kammermusikalisch angelegt. Diesem radikalen Liszt’schen Altersstil, fernab von apotheotischem Jubel und hypervirtuosem Pathos, ist es wohl auch geschuldet, dass die ses Opus heutzutage im öffentlichen Konzertleben eher selten zu hören ist. Im Hinblick darauf kommt die von Harald Feller bei Schott herausgegebene Orgelfassung doppelt willkommen, hilft sie doch, diese tief anrührende Musik einem (noch) weiter gefassten Hörerkreis in zum Teil neuen Klangfacetten zu erschließen.
Dem Transkriptionsvorhaben methodisch zupass kam der praktische Umstand, dass Liszt die Tondichtung zuerst im Klaviersatz – also bereits für ein Tasteninstrument – skizzierte, ehe er sie orchestrierte bzw. an einigen Stellen erweiterte. Feller bedient sich weitgehend der „Orchesterfassung als Vorlage“. Dünn und „basslos“, nur mit Violinen, Bratschen, Flöten und Harfe (ad libitum) ist der erste Satz „Die Wiege“ im Liszt’schen Original instrumentiert, alles dolce und sempre piano. Vermittels einer geschickten Aufteilung der Stimmen und der durchdachten Verwendung von 4-Fußregistern (Manual Flöte 4’ solo, Pedal nur 4’) lassen sich auf der Orgel alle Instrumente plastisch abbilden.
Im zweiten Satz „Der Kampf um’s Dasein“ wird der volle Orchesterapparat gefordert. Hier dominieren scheinbar tonal ziellos aneinandergereihte perkussive Melodiefragmente, denen ein kantables Thema gegenübergestellt wird. Schnelle Sechzehntel-Streichertremoli stabilisieren und intensivieren die ausladende Dramatik und werden in der Orgelübertragung anfangs durch schnelle Oktavtremoli im Pedal imaginiert. Später, wenn die musikalische Struktur aufgrund der sukzessiven Addition weiterer Instrumente vielschichtig-komplexer wird, orientiert sich der Bearbeiter mehr an den gehaltenen Akkorden der Bläser. Zwar geht hierbei der furiose Sechzehntel-Grundpuls verloren, jedoch wird dies dank der genauen Reproduktion vieler Details – etwa von Flöteneinwürfen im Diskant – zum Teil wieder ausgeglichen. Anstatt des überleitenden, prägnanten Paukensolos – als großes Diminuendo (von ff zu pp), pendelnd zwischen den Tönen dis und H gestaltet – greift die Transkription auf den abrupten Abschluss der Klavierversion zurück. Der langsame dritte Satz „Zum Grabe: Die Wiege des zukünftigen Lebens“ steht dem ersten formal und atmosphärisch nahe. Er beginnt einstimmig, fragil in seiner Melodik und mit klagendem Gestus. Wiederum werden in der Orgelbearbeitung die feinen Linien als ausdifferenziertes Klanggeflecht nachgezeichnet. Instruktiv sind die aus der Partitur abgeleiteten und in Klammern gesetzten Registrierangaben.
Abschließend sei die Ausgabe auch ihrer hervorragenden Lesbarkeit des Notentextes wegen empfohlen. Angesichts des für Liszt’sche Verhältnisse „moderaten“ technischen Schwierigkeitsgrades eignet sich das Stück auch zur Aufführung etwa durch etwas geübtere „angehende TastenlöwInnen“. Das Instrument sollte neben „orchestral“ zeichnenden Grundstimmen über einen Mindestfundus charakteristischer (solistischer) Farben verfügen und in jedem Fall über ein schwellbares Manual.
Jürgen Geiger