John Stanley
Voluntaries Op. 5–7
Pietro Delle Chiaie an der Inzoli-Bonizzi-Orgel in der Kirche St. Michael Archangel in Rocca Massima (Italien)
Bewertung: 5 von 5 Pfeifen
Der im Alter von zwei Jahren erblindete englische Organist und Komponist John Stanley (1712–86) hat in seinem Heimatland England seit jeher einen relativ hohen Stellenwert, was sich schon daran zeigt, dass er ursprünglich in Westminster Abbey – dem britischen „Heiligtum“ – beigesetzt werden sollte, was Stanley aber ablehnte. Auch in Konzerten hierzulande erklingen ab und zu ein oder zwei seiner Voluntaries – meist als gefühlte Füllstücke, die recht schnell wieder vergessen sind.
Diese Gesamtaufnahme von John Stanleys insgesamt dreißig Voluntaries für Orgel in drei Bänden zu jeweils zehn Stücken durch den italienischen Organisten Pietro Delle Chiaie beweist, dass die kompositorische Qualität der meisten dieser Stücke weit über Füllwerke hinausgehen und es wünschenswert wäre, wenn Stanley wieder mehr Beachtung bekäme. Auch seine wunderbaren sechs Streicher-Concerti op. 2 verdienen neben den Concerti grossi von Händel eine vermehrte Aufmerksamkeit. Stanley hat viel von seinem Freund Händel gelernt und verwendet in seinen Concerti das Streichorchester sehr einfallsreich, aber auch seine Orgelwerke, die die typisch englische Voluntary-Tradition eines Christopher Gibbons, Henry Purcell oder William Croft zu einsamem Höhepunkt führt, haben einen hohen Eigenwert.
Der englische Begriff „Voluntary“ (etwa „freiwillig“, „beliebig“) für ein Musikstück ist seit etwa der Mitte des 16. Jahrhunderts belegt und bezieht sich auf eine meist im improvisatorischen Stil verfasste kürzere Komposition, vornehmlich für Orgel. In der Frühform lassen sich formale und stilistische Nähe zu Fantasia, Fancy oder Fugue finden, die zeigen, dass die Form nicht endgültig festgelegt scheint und die Bezeichnung zum Teil austauschbar war. Bei John Stanley handelt es sich meist um traditionell zweisätzige Werke mit einer Spieldauer von unter fünf Minuten. Einer kurzen, langsamen Einleitung folgt ein schnellerer, oft fugierter Satz mit deutlich größerem Gewicht, der meist auf Trompetenregistern gespielt wird. Am großartigsten gelungen ist Stanley vielleicht das dreisätzige Voluntary op. 5/8 d-Moll, das sich weit über die sonst übliche gottesdienstliche Gebrauchsmusik der anglikanischen Kirche heraushebt.
Warum die Werke auf den beiden prall gefüllten CDs unchronologisch (op. 6, op. 5, op. 7) eingespielt wurden, erschließt sich nicht wirklich. Das ausführliche Booklet (wie bei Brilliant üblich nur in Englisch) informiert über John Stanleys Leben, spart verblüffenderweise aber jeglichen Kommentar zu den eingespielten Werken aus. Es handelt sich um eine sehr gelungene Gesamteinspielung (vorausgegangen sind u. a. Guy Bovet und Margaret Philipps) mit hohem interpretatorischen Profil auf der idiomatisch klingenden und sehr klangschön aufgenommenen Inzoli-Bonizzi-Orgel (Baujahr 1999). Vorliegender Aufnahme vollends die Krone aufgesetzt hätte eine Einspielung auf einem originalen zeitgenössischen englischen Instrument.
Christian Münch-Cordellier