Schinellii, Achille

Tre Pezzi di Concerto (op. 3) per Organ

hg. von Gilberto Sessantini (= Organistica 2/2014)

Verlag/Label: Edizioni Carrara
erschienen in: organ 2014/03 , Seite 61
Italienische Orgelkompositionen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts scheinen, etwa im Gegensatz zur französischen Orgelmusik dieser Zeit, heute außerhalb Italiens noch nicht wirklich im Bewusstsein der organistischen Zunft etabliert zu sein. Im Allgemeinen begnügt man sich mit einigen wenigen Bravourstücken aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die wegen ihrer unbeschwerten fröhlichen Opernmelodien, meist mit einfachen Begleitungen unterlegt bzw. marschartigen Betonungen den Nimbus des in einer Kirche sich nicht Geziemenden an sich tragen: Und so rufen diese Werke auch heute noch den Widerspruch allzu „seriöser“ Kleriker oder Musikgelehrter hervor. Einfach nur Spaß haben an einer Musik, die nur gefallen möchte und am Ende das große „Bunga“ haben will – geht diese Trivialität nicht entschieden zu weit? 
Doch diese Sichtweise wäre allzu simpel. Um die italienische Orgelmusik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstehen zu können, muss man die italienische Oper dieser Epoche kennen, mit ihrem Grenzen verwischenden Spiel zwischen Tragik, Komik oder Groteske, zwischen Ernst und reiner Freude an der Unterhaltung. Hier liegt ihre Tiefe, ihre wahrhaft „italienische Seele“, welche alle Abgründe und Nuancen der menschlichen Existenz ausleuchtet – wozu eine Musik, die „nur“ ernst oder „nur“ heiter ist, nicht fähig wäre.
Ab der zweiten Hälfte des vorvergangenen Säkulums vollzieht sich allerdings in der italienischen Orgelmusik, ähnlich wie in Frankreich (Boëly u. a.), allmählich ein Wandel zurück ad fontes, in Richtung des „Seriösen und Sakralgemäßen“. In diese neue, ernst-romantische Richtung, die sich zuweilen im Grau-in-Grau chromatischer Progressionen oder in den Manierismen klerikaler „Neomodalität“ (gregorianische Themen) verlieren kann, gehören auch die Tre Pezzi von Achille Schinelli, die – obgleich im 20. Jahrhundert geschrieben – noch ganz der musikalischen Sprache des 19. Jahrhunderts verhaftet bleiben. So ist die Edition folgerichtig auch als „Post-Romantico“ bezeichnet worden, ein Terminus, welcher die stilistische Orientierungslosigkeit und die ganze Hilflosigkeit umschreibt, mit welcher man den (noch) tonalen Komponisten ernster Musik im 20. Jahrhundert editorisch begegnet. Diese Musik wirkt wie seltsame Schatten aus der Gouvernantenstube des Fin de Siècle, verloren in einer Welt von Gaskrieg, Foxtrott, Atonalität … – oder faschistischen Aufmärschen. Und so wird man auch bei diesen drei sinfonischen Stücken den Eindruck nicht los:?alles früher schon einmal dagewesen, aber dennoch musikgeschichtlich interessant.
Das erste Stück, „Andante con moto“, verarbeitet in seiner zarten Melodik noch Nachklänge Men­dels­sohns, wenn auch zuweilen durch die auskomponierte Oktavkoppel oder gewichtige Akkorde deutlich verbreitert. Der Anfang er­innert in seiner parfümiert-romantischen Stimmung an Boëllmanns „Priere a Notre Dame“ aus dessen Suite gothique. Eine große Steigerung in der Mitte führt zu einem Grandioso, das sich dann im verklärten ppp „quasi pizzicato“ im Pedal verliert. Der zweite Satz „Offertorio sinfonico – Allegro guisto“ ist mit seinen fast 200 Takten sehr ausgedehnt und bietet sich insofern wohl nur für Konzertaufführungen an. Nach gewichtigen Einleitungsakkorden hebt ein lyrisch-gesang­li­ches Thema in reinstem f-Moll an, das mit seinen klaren achttaktigen Perioden über weite Strecken – neben einem weiteren, ebenfalls lyrischen Thema – präsent ist und durch verschiedene Tonarten hindurch variiert wird – eine Technik, die auch in Widors Orgelsinfonien Anwendung findet; ob in diesen 200 Takten jedoch alles kompositorisch auf der Höhe Widors ist, darf bezweifelt werden. Dieser Satz endet im fulminanten Largamente in F-Dur, mit bis zu zehnstimmigen Fortissimo-Akkorden. Überraschend leichtfüßig und luzide kommt das „Finale“ in Form einer Toccata daher. Oft ist die Faktur hier drei- oder vierstimmig bzw. akkordisch durchsetzt; mit seinen fast 300 Takten ist dies wohl der wirkungsvollste Satz des Zyklus.
Technisch sind die Stücke anspruchsvoll, zumeist aber nicht wirklich schwer. Die Farben einer großen spätromantischen Orgel lassen sich voll zur Geltung bringen. Die Ausgabe ist im Notensatz klar, sauber und übersichtlich gestaltet, wenn auch die Druckstärke auf manchen Seiten etwas flau ausfällt. Dies sind allerdings Marginalien angesichts der löblichen verlegerischen Leis­tung, dieses bei uns kaum bekannte Repertoire der Orgelzunft praktisch zugänglich gemacht zu haben.
 
Eberhard Klotz