Georg Langenhorst
Tote Archivarin – Gute Archivarin
Mord in der Domorgel. Ein Roman
Mancher Orgelbauer kann sicherlich trefflich über eigenartige bis skurrile Funde bei der Reinigung oder Restaurierung von Orgeln berichten. Eine Leiche ist aber bisher wohl noch nicht dabei gewesen. Umso bemerkenswerter ist es, dass innerhalb kurzer Zeit gleich zwei Autoren dieses etwas abseitige Sujet für sich gefunden haben.
Beide Autoren kommen aus dem kirchlichen Umfeld. Johannes Matthias Michel ist Kirchenmusiker in der Mannheimer Christuskirche und Professor für künstlerisches Orgelspiel in Mannheim und Heidelberg. Georg Langenhorst ist Professor für Didaktik des Katholischen Religionsunterrichts/Religionspädagogik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Augsburg; sein Forschungs- und Publikationsschwerpunkt ist der Dialog von Theologie und Literatur. Michel schreibt seinen ersten Roman – das Konzept ist zwanzig Jahre alt und sollte ursprünglich dazu dienen, Menschen für das Instrument Orgel zu interessieren. Langenhorst ist bereits erfahren darin, Menschen im kirchlichen Umfeld um die Ecke zu bringen: Er legt hier seinen fünften Kriminalroman vor. Beide Autoren kennen also ihr kirchliches Milieu, wissen sich dort gut zu bewegen. Der eine ist evangelisch, der andere katholisch – und irgendwie haben sie schon deswegen sehr unterschiedliche Probleme. Auch ihre Themen könnte man fast als typisch bezeichnen. Der Protestant sieht sich zu Fragen des Dritten Reiches hingezogen, der Katholik kümmert sich um die Frauen.
Die Geschichten ähneln sich: In Michels Roman Tod im Fernwerk findet der zweite Organist seinen ermordeten Chef Hanns-Dieter Gaus einige Tage nach dessen grandiosem Silvesterkonzert im Fernwerk der Orgel. Er merkt beim Orgelspiel, dass die beiden Jalousien des Schwellwerks nicht reagieren. Er steigt den Weg zum Fernwerk hinauf und findet seinen toten Vorgesetzten. In Langenhorsts Roman Tote Archivarin – Gute Archivarin ist der Fund der Leiche, die sich als die vor 2 ½ Jahren verschwundene Leiterin des bischöflichen Amts für Denkmalschutz und gleichzeitig Frauenbeauftragte des Bistums entpuppt, weniger spektakulär. Vor einem Gastkonzert wünscht der Organist eine Führung durch die Orgel. Hinter einer verschlossenen Tür, die zuvor noch niemand wirklich wahrgenommen hat, entdeckt der Erkundungstrupp ein unbenutztes kleines dunkles Kämmerchen, das ohne jegliche weitere Bedeutung für die Orgel oder die sie umgebende Kirche ist. Hier liegt eine leicht verweste Frauenleiche.
Um es vorwegzunehmen: In beiden Mordfällen ist der Mörder nicht der Gärtner. Beide Krimis haben einen anderen Täter zu bieten, der sich über lange Strecken nicht in den Fokus des Lesers drängt. Erst intensive Ermittlungsarbeit und ein wenig Bauchgefühl der Ermittelnden führen am Ende zur Aufdeckung der Tat. In beiden Fällen ist die Auflösung bzw. die Bestrafung der Verbrecher nicht alltäglich. Allein die Auflösungen machen beide Krimis lesens- und nachdenkenswert.
Ein wahrer Orgelliebhaber wird wohl nicht darum herumkommen, auch diese kriminelle Facette seines Hobbies oder Berufs zur Kenntnis zu nehmen. Immerhin wird sich beim Leser das eine oder andere Grinsen einstellen. So spielt zum Beispiel Gaus bei Michel alljährlich im Silvesterkonzert Johann Sebastian Bachs Präludium und Fuge D-Dur BWV 532. Ein lokaler Musikkritiker mit allerhöchster wissenschaftlicher Reputation kritisiert: „… und wieder einmal gelang es Gaus, den Takt aus der Fuge zu treiben: Die großartigen Repetitionsfiguren stolperten gegen den metrischen Schritt.“ Wie diese verstolperten Repetitionsfiguren aber einen Teil des Mord-Rätsels lösen – diese Idee ist aller Ehren wert.
Langenhorst schreibt professionell einen Kriminalroman, der mit dem Fund der Leiche beginnt, hernach die Ermittlungen beschreibt, Charaktere aufzeigt und entwickelt, vielleicht einen möglichen zweiten Höhepunkt vermissen lässt und dann zu Lösung des Falls kommt. Klar strukturiert, immer am Thema, gut lesbar, spannend. Bei Michel ist diese Klarheit nicht so durchgängig gegeben. Die Umwege und weiteren Themen, die er einführt, sind höchst erquicklich zu lesen, könnten als Stilmittel aber auch ohne allzu großen Spannungsverlust sparsamer eingesetzt werden. Michel schreibt zugleich einen Krimi, einen musikalischen Essay, eine Familiengeschichte (der ermittelnde Kommissar ist der Bruder des zweiten Organisten), eine Liebesgeschichte und versucht letztlich auch noch das Thema „Kirchenmusik im Dritten Reich“ abzuarbeiten. Tatsächlich gelingt ihm ein flüssiger Text, der aber gerade bei diesem Thema in Platitüden und konspirativen Treffen im Keller hängenbleibt. Das ist schade, denn hier ist auch heute noch manches an inhaltlicher Klärung vonnöten.
Als besondere Zugabe liefert Michel einen YouTube-Kanal („T im Fernwerk“), auf dem er alle im Roman erwähnten Orgelkompositionen als Audio-Dateien zur Verfügung stellen will – eine wunderbare Hör-Ergänzung zum Roman! Bislang sind dort acht Kompositionen zu finden, alle von Michel selbst eingespielt an der Steinmeyer- und der Marcussen-Orgel in der Christuskirche in Mannheim, im Kölner Dom und auf einem Kunstharmonium. Den direkten Bezug zum Romantitel bietet Wolfgang Amadeus Mozarts Adagio für die Glasharmonika, gespielt auf der Celesta des Fernwerks in der Christuskirche. Dadurch dass hier allerdings nur ein Register des Fernwerks verwendet wird und die gesamte restliche Orgel schweigt, kommt der besondere Raumklang, der durch das Fernwerk erzeugt werden kann, nicht zur Geltung. Dieser Raumklang wird aber sicher in einer der noch ausstehenden Aufnahmen (vielleicht in Sigfrid Karg-Elerts Impression in Des-Dur op. 86?) noch nachgeholt.
Ralf-Thomas Lindner