Toccatissimo

J. S. Bach / C. Ph. E. Bach: Toccata und Fuge d-Moll BWV 565, hg. von Michael Gailit

Verlag/Label: Edition Bachs Toccata, Band 1
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2024/03 , Seite 55

Wie kaum ein anderes Musikstück vermag „die Toccata“ seit Generationen Begeisterung für Orgelmusik zu wecken, Musikliebhabern wohlige Schauer über den Rücken zu zaubern – und sie hat junge Menschen zur Orgel und zum Orgelspielen gebracht. Es gibt die These, dass sie ursprünglich für Violine gedacht war. Das Interesse an diesem Musikstück kam erst im 19. Jahrhundert richtig in Schwung, so bezeichnet im legendären Orgelkonzert Mendelssohns von 1840 kein Geringerer als Robert Schumann sie als „Bachisch-humoristisch“. Es gibt unzählige Traktate, die sich mit der Frage nach Ursprung und Urheber auseinandersetzen. Das Autograph ist ja bis heute verschollen, eine Abschrift von Johannes Ringk bildet den Ausgangspunkt späterer Kopien.
Nun wartet der aus der Praxis kommende Organist und Pädagoge Michael Gailit mit einer Neuausgabe mit Spielfassung und direkter Quellenübertragung auf, in der alle Korrekturen und Ergänzungen in einem kritischen Bericht detailliert niedergelegt sind; man hat also die Synopse der ersten erhaltenen Abschrift und die Übertragung direkt nebeneinander. Als Autor wird „Johann Sebastian Bach zugeschrieben, wahrscheinlich Carl Philipp Emanuel Bach“ genannt. Richtig interessant wird es jedoch erst, wenn man den umfangreichen Textband zu Rate zieht, der sich als ein wahrer musikalischer Toccaten-Krimi präsentiert. Spannung pur verheißen Schlagworte wie „Der Handschriften-Krimi“ (samt Verdachtsäußerung, dass die Titelseite der ältesten Handschrift gefälscht worden wäre), „Richtigstellung des Jahrhundert-Fehlers“, „Eine Kompositionstechnik, die J. S. Bach nicht kannte“. Zahlreiche „Spurensuchen“ und die Behauptung, Toccata und Fuge in d „erstmals entschlüsselt“ zu haben, suggerieren eine Story über eines der bekanntesten Musikstücke überhaupt, die man unbedingt gelesen haben sollte.
Dieser Textband ist tatsächlich faszinierend und regt an, sich auch mit der zitierten Sekundär­literatur über ein Stück zu befassen, das jeder Organist inflationär oft spielen „durfte“ und im Gegensatz zur sogenannten dorischen Toccata als die „epidemische“ bezeichnen könnte. In etlichen Teilen hat Michael Gailit absolute Pionierarbeit geleistet, die sich schon durch die äußerst gelungene grafische Darstellung deutlich von anderen Veröffentlichungen ab­hebt: zahlreiche, zum Teil sehr einleuchtend markierte Notenbeispiele, Faksimiles und maß­stabgetreue Autographe. Die vorbildliche Darstellung des thematischen Mate­rials, das in kleine Motivbausteine zerlegt, analysiert und anschaulich mehrfarbig dargestellt wird, sowie die Auf­lis­tung der Themeneinsätze, Zwischenspiele und Kontrapunkte führen dann zu Schlussfolgerungen Gai­lits, dass diese Art motivischer Arbeit erst in der Nach-Bachschen Periode entwi­ckelt worden sein könnte. Dies versucht er durch m. E. wenig schlüssige Vergleiche mit Beispielen von Wagenseil, Haydn und vor allem Carl Philipp Emanuel Bach zu belegen.
Hierauf folgt der oben erwähnte umfangreiche Vergleich der Handschriften, Titel, Signaturen, Schrifttypen und Eigenheiten in der Notenschrift. Hier vermutet Gailit, dass der Titel der ältesten Abschrift gefälscht sein könnte. Zu Beginn des folgenden Kapitels, das sich mit der Rezeptionsgeschichte des Werks beschäftigt, folgt ein weiterer verdienstvoller Abschnitt: eine m. E. wirklich schlüssige Rekonstruktion des 72. Takts in der Fuge. Hier fehlt in der ältesten Quelle ein Taktschlag, der in der Folgezeit mit geringfügigen Unterschieden ergänzt wurde. Gailit belegt plausibel, dass diese Passage als konsequentes Zitat (wie auch in der gesamten Fuge) des Themas gesetzt sein soll, wodurch eine sinnvolle Ergänzung dieser Stelle ermöglicht wird: die Korrektur des „Jahrhundert-Fehlers“! Hernach versucht Gailit anhand der zahlreichen gewonnenen Argumente zu beweisen, dass Carl Philipp Emanuel Bach der wahre Autor von Toccata con Fuga ex d sei. Ich kann ihm da nicht folgen, denn der Großteil seiner Beweisführung wurde im 2020 erschienenen Buch Der komponierende Organist um 1700 von Andreas Weil, das Gailit u. a. zitiert, längst ausgiebig und schlüssig diskutiert.

Stefan Kagl