Tientos y Glosas

Iberian Organ & Choral Music from the Golden Age

Verlag/Label: audite 97.713 (2015)
erschienen in: organ 2016/02 , Seite 57

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Mit dieser CD wird erfreulicherweise wieder die reiche und geheimnisvolle Schatztruhe mit iberischer Orgelmusik geöffnet. Drei Komponisten erhellen ein wenig das vielversprechende Dunkel: Diego Xaraba (1652–1715), Francisco Cor­rea de Arauxo (1584–1654) und Manuel Rodriguez Coelho (1555–1635), de­ren Lebensdaten 160 Jahre iberischer (Musik-) Geschichte abdecken.
Nicht nur in Hinblick auf die Vokalmusik („Goldenes Zeitalter“) ist der Publikationstitel irreführend, handelt es sich doch hauptsächlich um gregorianische Melodien, die mit Orgelversos oder tentos (portugiesisch) alternatim musiziert werden. Doch unter dem Aspekt der präsentierten Orgelmusik ist das konsequent und bewahrt den Zuhörer vor einem kaum mehr sortierbaren akustischen Krämerladen.
Die Frage nach der Intention für diese digitale Kompilation tut sich auf. Soll eine großartige spanische Orgel porträtiert werden? Geht es um ein akustisches Dokument der Entwicklung des spanischen Orgelbaus? Sollen herausragende Vertreter der iberischen Orgelmusik – nicht nur spanische – Gehör erlangen? Geht es um das im Booklet beschworene Goldene Zeitalter? Geht es um eine (liturgische) Wech­sel­wir­kung/Gleichsetzung von Orgel- und Vokalmusik, wie der Programmtitel suggerieren möchte? Geht es um eine – im Booklet beschworene – Musik der Gegenreformation, die als Terminus an sich schon problematisch erschiene? Rhetorische Fragen, die akademischer Natur sind …
Vielmehr weiß der Tonträger als greifbarer Ausdruck einer persön­lichen Begeisterung für ein bemerkenswertes iberisches Repertoire zu überzeugen. Quantitativ führend erklingt die farbige Auswahl von vier tientos und einer Variationsreihe des lange in Sevilla wirkenden Geist­lichen Francisco Correa de Arauxo (1626). Dagegen ist Diego Xaraba y Bruna mit nur einem ihm zugeschriebenen Tiento lleno vertreten. Der bedeutende Altmeister aus Lissabon, Padre Manuel Rodriguez Coelho, seines Zeichens königlicher Organist und Verfasser des bemerkenswerten Praktikertraktats Flores de musicapera o instrumento de Tecla, & Harpa (1620), ist wenigstens mit kontrapunktisch eleganten versos und Choraltientos vertreten.
 Ein wenig schade ist, dass hier die attraktive Idee, Orgel- und Vokalmusik in ihrer gottesdienstlich angelegten Alternatimpraxis vorzustellen, de facto ad absurdum geführt wird, da die Choralschola und das Vokalensemble 2000 Kilometer entfernt von der wunderbaren Orgel aufgestellt wurden. Lebt das lebendige Miteinander-Musizieren bekanntermaßen vom persönlichen Kontakt, scheint dies hier einem globalistischen, marktbestimmten Konzept geopfert worden zu sein. Es bleiben eben doch noch viele Fragen …

Johannes Ring