Nielsen, Carl (1865–1931)

The Organ Works

Verlag/Label: Dacapo 6.220635 (2017)
erschienen in: organ 2017/02 , Seite 56

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Wer Carl Nielsen als Sinfoniker kennt und seine Vierte (Das Unauslöschliche) oder Fünfte schätzt, wird sich schwertun, die Handschrift des Komponisten auf der vorliegenden CD zu erkennen. Und vielleicht ist sogar vielen Musikfreunden unbekannt, dass Nielsen überhaupt Orgelwerke hinterlassen hat. Einen entsprechenden Schaffensimpuls löste 1913 ein Konzert des deutschen Organisten Karl Straube in Kopenhagen aus, zu dessen Besuchern Nielsen zählte. Er schrieb damals an seine Frau: „Ich fühle den Drang, eine Fantasie für Orgel zu schreiben, und habe damit bereits begonnen.“
Doch erst 1930 wurde dieser Plan ausgeführt, als Nielsen seine Commotio schuf, ein über zwanzigminütiges Werk im „einzig gültigen Orgelstil“, nämlich dem der polyphonen Musik. Zwei Fugen-Teile werden von Einleitung, Zwischenspiel und Coda umrahmt, womit anders, als der Titel zunächst suggeriert, „alle persönlichen, lyrischen Gefühle“ ausgeschaltet werden. Zugleich bezieht Nielsen Gegenposition zur spätromantisch-sinfonischen Orgelmusik: „Lange Zeit ist die Orgel als eine Art Orchester behandelt worden, und das ist sie absolut nicht.“
Nielsens Commotio ist das Zent­ralwerk dieser CD-Neuproduktion, kompetent interpretiert von der dänischen Organistin Bine Bryndorf. Es trifft sich glücklich, dass sie dafür die Marcussen-Orgel in der Kopenhagener Nikolaj Kunsthal gewählt hat. Denn diese 1931 eingeweihte Konzertorgel dokumentiert ebenfalls den von Nielsen betonten historischen Umbruch in der Orgelästhetik: Ursprünglich noch als spätromantisches, elektropneumatisches Instrument geplant, wurde sie unter dem Einfluss der Orgelbewegung als mechanische, dreimanualige Orgel mit einer stärker an barocken Vorbildern orientierten Disposition errichtet.
 Commotio ist Nielsens einziges großes Orgelwerk geblieben, neben dem in den letzten Lebensjahren noch viele kürzere, hier ebenfalls von Bine Bryndorf eingespielte Stücke entstanden, darunter vor allem die 29 kleinen Präludien. Dabei handelt es sich um für den kirchlichen Gebrauch bestimmte Miniaturen von ein bis zwei Minuten Dauer, teils lyrischen Charakters, teils auch polyphon angelegt und mit bewusst beschränkten spieltechnischen Anforderungen. Nielsen erntete mit dieser Sammlung aber nicht durchweg Zustimmung und löste eine Debatte aus, welche der Stücke denn tatsächlich „kirchlich“ genug seien, um im Gottesdienst zu erklingen.
Abgerundet wird die CD mit einigen geistlichen Gesängen Nielsens, bei denen der Bariton Torsten Nielsen den Vokalpart gestaltet. Sie entstammen der Sammlung Salmer og Aandelige Sange für „Heim, Kirche und Schule“. Gerade auf diese schlicht gesetzten strophischen Vertonungen war Nielsen besonders stolz. „Ich habe drei Hymnen geschrieben“, heißt es in einem Brief von 1914, „von denen zwei zum Allerbesten gehören, und einer wahrscheinlich das Schönste ist, was ich bisher komponiert habe“.

Gerhard Dietel