Bush, Douglas E. / Richard Kassel (Hg.)

The Organ. An Encyclopedia

Verlag/Label: Routledge, New York 2006
erschienen in: organ 2011/01 , Seite 60

Kurz bevor sich der im oberpfäl­zischen Laaber ansässige gleich­namige Musikverlag an eine zuvor lange angekündigte und fraglos überfällige lexikalische Aufarbeitung der Thematik des Orgelwesens in deutscher Sprache machte (Busch / Geuting: Lexikon der
Orgel, Laaber 2008; vgl. Rezension von Wolfram Adolph in organ 3/2010; wobei hier neben dem Orgelbau auch der Orgelmusik ausgiebig Raum gegeben wurde), war in den USA bereits ein profundes Nachschlagewerk auf dem Markt, das sich exklusiv Fragen des Orgelbaus zuwendet und – in Ermangelung eines gleichrangigen europäischen Pendants – jedem an der Thematik Interessierten auch hierzulande nur wärmstens empfohlen werden kann.
Die englischsprachige Publikation zeigt auf eine beglückende und zugleich beschämende Weise – nicht das erste Mal! –, dass die vermeintliche Kulturbarriere in der Richtung von Europa nach Amerika offenbar (noch immer) weitaus durchlässiger ist als umgekehrt. Nach wie vor wird hierzulande von den bedeutenden Errungenschaften des amerikanischen Orgelbaus und der amerikanischen Orgelforschung kaum etwas wahr- bzw. ernst genommen.
An der Sprachbarriere kann es im Falle des heute in Wissenschaftskreisen selbstverständlichen (?) Englisch wohl kaum liegen; eher an der sowohl in musikalischen wie wissenschaftlichen Kreisen mit einer alles in allem irrational anmutenden Arroganz verteidigten „europäischen“ Deutungshoheit in allen Kulturdingen – frei nach dem Grundsatz, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Erschwerend kommt – im deutschsprachigen Raum – die innerhalb der professionellen Ausbildungsgänge nach wie vor fatale Trennung zwischen Musik und Musikwissenschaft hinzu. Gerade unter diesem Aspekt haben die Amerikaner – und dieses Lexikon belegt es einmal mehr – uns einiges voraus, wovon wir in unseren Breiten nur lernen und profitieren könnten. Allein, wir tun es nicht!
Wie sonst erklärt sich, dass etwa die Orgelbaugeschichte unseres unmittelbaren Nachbarlandes Polen (von Deutschland aus betrachtet!) auf der anderen Seite der Erdkugel nicht nur umfassender, sondern auch weitaus kompetenter gewürdigt wird, als es etwa in der oben genannten Laaber-Publikation der Fall ist? Müssen wir uns hier mit nicht immer korrekten und zudem vielfach oberflächlichen Informationen be­gnügen, während der amerikanische Leser mit Jerzy Golos, dem Nestor der polnischen Orgelforschung, von einem seriösen und wissenschaftlich auf der absoluten Höhe der gegenwärtigen Forschung orientierten Autor bedient wird?
Natürlich sind die uns hierzulande naturgemäß weniger geläufigen ame­­rikanischen Orgelbauer aus Vergangenheit und Gegenwart besonders prominent vertreten (wo auch sonst, wenn nicht in einem amerikanischen Orgellexikon?) – in einschlägigen deutschen Publikationen sucht man allerdings auch die bekannteren Namen vergebens. Daher leistet das Buch auch unter diesem Aspekt wertvolle Dienste.
Neben kenntnis- und detailreichen Artikeln zu einzelnen Orgelbauern, Registern, Windladenarten und Trak­tursystemen finden sich ebenfalls Hauptartikel zu wichtigen Epochen (vom Mittelalter bis zur Orgelbewegung des 20. Jahrhunderts), sofern sie für den Orgelbau von Relevanz sind. Länderartikel (der Artikel zu den USA ist erwartungsgemäß der umfangreichste) ge­ben zudem einen guten, stets fundierten Überblick über die einzelnen Schulen und Traditionen. Deutschland wurde allerdings, im Hinblick auf die recht unterschiedlichen hiesigen Traditionen, orgeltopografisch nicht einfach pauschal abgehandelt, sondern in Einzelartikel nach Regionen aufgeteilt (Bayern, Ems-Dollart-Region, Ostpreu­ßen, Sachsen, Schlesien, Thüringen) gewürdigt, wobei der rheinische Orgelbau, Hessen oder Brandenburg z. B. deutlich vernachlässigt wurden. Hier bleibt der Leser auf die wenigen, meist leider allzu kurzen Artikel über die einzelnen Orgelbauer (etwa Joachim Wagner) angewiesen.
Allerdings wird der thematische Bogen redaktionell so weit gespannt, dass auch der Orgel „verschwisterte“ Instrumente und ihre Erbauer, allen voran das Harmonium, eine angemessene Behandlung erfahren. So findet man detaillierte Informationen etwa auch zu den französischen Firmen Alexandre und Debain (im deutschen Laaber-Lexikon sucht man danach vergebens!), wäh­rend nicht gerade dritt­rangige deutsche Firmen, etwa Mannborg oder Lindholm, unter den Teppich gekehrt wurden: schade!
Sparsam wurde insgesamt mit der Wiedergabe von Dispositionen verfahren, auch ganzseitige Abbildungen sucht man vergebens (die enthaltenen Bilder sind schwarz-weiß und von unterschiedlicher Qualität). Dem bibliografischen Wert des Bandes als einem erstklassigen Standardwerk des Orgelbaus in Geschichte und Gegenwart tut dies allerdings keinen Abbruch, der Informationswert bleibt bemerkenswert! Bilder und Dispositionen findet man heute zudem vielfach im Internet; sie müssen die ohnehin kostspieligen Printpublikationen nicht zusätzlich mit hohen Druckkosten belasten. Biografische Daten weniger geläufiger Orgelbauer sind im Netz hingegen (noch) verhältnismäßig rar gesät.
Umso dankbarer nimmt auch der europäische Organologe diese willkommene lexikalische Bereicherung aus den USA zur Kenntnis. Nicht allein allen öffentlichen Fachbibliotheken, für die der Band ein Anschaffungs-Muss darstellt, sei er hiermit wärmstens empfohlen.

Michael F. Runowski