Johannsen, Kay

The Great Wall for organ solo

Verlag/Label: Carus, CV 18.089
erschienen in: organ 2016/02 , Seite 63

Eine musikalische Huldigung an die chinesische Mauer – mit Verlaub: das ist neu innerhalb der (abendländischen) Musikgeschichte. Der Stuttgarter Organist und Stiftskantor Kay Johannsen entwi­ckelte das umfangreiche und virtuose Orgelwerk als schriftliche Fixierung einer Orgelimprovisation, die man sich im Internet auf YouTube anschauen/-hören kann.
Viele musikalische Einflüsse lassen sich feststellen: Zunächst fußt das Stück, welches sich am ehesten als „Toccata“ charakterisieren ließe, auf der Tonsprache – einer erweiterten Tonalität, die ihre Ursprünge im musikalischen Impressionismus haben könnte. Themenarchitektur, freie Pentatonik, motivische Dispositionen und harmonische Wendungen sprechen für eine eher französische Konjunktion. Man ist indes leicht verwirrt ob der stilistischen Vielstimmigkeit: Die rhythmischen Anklänge (sowie die dynamische Anlage) erinnern an Ravels Boléro, die harmonische Klangwelt, in der die Musik beheimatet ist, weist – wie gesagt – in den westlichen Teil Zentraleuropas. Die Konnotation Chinas – wenn es sich denn um eine musikalische Abbildung der titelgebenden antiken Monumen­tal­architektur handeln sollte (hierzu hätte z. B. ein durchgehend rhythmischer „motivischer“ Fries dienen können) – bleibt dem Rezensenten allerdings weitgehend ein Geheimnis.
Diese Edition lässt ihren Benutzer mithin in einer gewissen hermeneutischen Unsicherheit hinsichtlich des programmatischen Vorwurfs dieses Stücks zurück – und folglich auch hinsichtlich dessen adäquater Interpretation. Dies liegt mit daran, dass der Verlag (bzw. damit auch der Komponist) aus bestimmten Gründen (?) auf einleitende Erläuterungen zu dieser interessanten Orgelkomposition leider gänzlich verzichtet hat. Trotzdem: ein gut gemachtes Orgelwerk, welches seine Wirkung im Konzert kaum verfehlen dürfte.

Jörg Abbing