Andriessen, Hendrik

The Four Chorals and Other Organ Music

Benjamin Saunders an der Orgel der Kathedrale von Leeds (UK)

Verlag/Label: Brilliant Classics 94958
erschienen in: organ 2015/03 , Seite 62

4 von 5 Orgeln

„Ohne Orgel bin ich kein Künstler, kein Mensch“, hat Hendrik Andriessen einmal in einem 1937 gegebenen Interview von sich selbst gesagt. Dabei war die Orgel keineswegs der einzige Schwerpunkt im Œuvre des 1892 in Haarlem geborenen und dortselbst 1981 verstorbenen Komponisten: Je vier Opern und Sinfonien, Konzerte, Chor- und Kammermusik und anderes mehr stehen auf seiner Werkliste. Gleichwohl ist es vor allem Andriessens Orgelmusik, die ihn insbesondere jenseits der niederländischen Grenzen in bleibender Erinnerung hält – auch wenn wenig von ihr ins gängige Konzertrepertoire eingegangen ist. Das könnte (und sollte) sich ändern angesichts der Einspielung, mit der Benjamin Saunders, Organist der Kathedrale von Leeds, an „seinem“ Instrument sechs große und zwei kleinere Orgelkompositionen von Andriessen präsentiert.
Da wären die Vier Choräle – wer da gleich an César Franck denkt, liegt nicht falsch. Denn es ist die französische Romantik, an der Andriessen sich zu einer Zeit orientiert, da sie in seiner Heimat so gut wie noch nicht bekannt war. Der Premier Choral von 1913 wirkt wie ein später Gruß an den Pariser Meis­ter von Sainte-Clotilde, der Deuxième Choral von 1916 verrät schon Andriessens Entwicklung hin zu einer eigenen Tonsprache, die er dann in den beiden folgenden Chorälen (1920/21) weiter ausbildet. „Verstiegene“ Harmonik steht neben herber Lyrik, momenthaft scheint Charles Tournemires Klanglichkeit auf (Andriessen hat ihn 1920 in Paris besucht).
Wenig später blickt Andriessen mit seiner Sonata da chiesa zurück auf die barocke Formtradition und Registrierpraxis. In dieser Sonata, die nichts anderes als einen sechsteiligen Variationszyklus darstellt, wird seine Sprache „einfacher“ – was auch für das über zwanzig Jahre später geschriebene Thema met Variaties gilt, das der englischen Organistin und Uraufführungsinterpretin Susan Jeans gewidmet ist.
Benjamin Saunders hat ein äußerst sensibles Ohr für die verschiedenen Ästhetiken dieser Musik, macht sie lebendig und absolut hörenswert und ist ihren technischen Anforderungen mühelos gewachsen. Die Klais-Orgel von 2010 (V + P/ 49), erbaut unter Verwendung von Material der Vorgänger-Orgel (Norman & Beard, 1904), spricht deutlich englisches Idiom, ist aber von der Aufnahmetechnik nicht optimal eingefangen – was sicher vorab den örtlichen Gegebenheiten zuzuschreiben ist (das Instrument teilt sich in Hauptschiff- und Chor­orgel).
Die acht Textseiten des Booklets liefern nur spärliche Informationen sowohl über den Komponisten, seine Werke als auch die Orgel – schade! Aber es lohnt, sich mit Andriessens Biografie und dem Œuvre dieses katholischen (!) Organisten aus den Niederlanden auseinanderzusetzen, der sich geweigert hat, der Nazi-deutschen „Kulturkammer“ beizutreten und dafür mit Auftritts- und Aufführungsverbot belegt wurde.
 
Christoph Schulte im Walde