Scheidt, Samuel

Tabulatura Nova III

Franz Raml an der historischen Orgel von St. Stephan, Tangermünde (Scherer), St. Jacobi, Hamburg (Schnitger) und dem Praemonstratenser-Chorherrenstift Schlägl (Putz)

Verlag/Label: Dabringhaus und Grimm, MDG 614 1895-2
erschienen in: organ 2015/03 , Seite 58

2 von 5 Pfeifen

Zunächst stellt Johannes Hoyer im Booklet (S. 18) zutreffend fest, dass die liturgische Ordnung der „Missa“ die Teile Kyrie, Gloria, Credo und Psalmus beinhaltet und Hymnus, Magnificat, Benedicamus zur „Vesper“ gehören. Der Hamburger Druck des III. Teils der Tabulatura Nova (1624) bietet dagegen eine völlig „verstolperte“ Reihenfolge (Kyrie, Gloria, Magnificat, Credo, Hymnus, Psalmus, Benedicamus), was sogleich zur Legendenbildung führt: „Steht mit dieser Anordnung vielleicht auch der Charakter einer jenseits von liturgischen Funktionen beispielhaften Sammlung von kompositorischen Modellen für Tasteninstrumente, insbesondere die Orgel, in Zusammenhang?“ (S. 19). Wie eine Modellsammlung just diese Reihenfolge der Tabulatura Nova III generieren könnte, wird indes nicht dargelegt. Dabei lässt sich der Wille des Komponisten zweifelsfrei ermitteln: Der Titel des Drucks dokumentiert die korrekte Abfolge Kyrie/Gloria, Credo, Psalmus einerseits, Hymnus, Magnificat, Benedicamus andererseits. 
Leider präsentiert diese CD in der Anordnung der Stücke nicht Sa­muel Scheidts ureigene Intention, sondern den historischen Lapsus des Hamburger Druckers Michael Hering. Schade um die ver­tane Chance, Scheidt zu seinem Recht zu verhelfen – der Buchstabe hat hier, leider, den Geist unterjocht. Im Übrigen ist dieser Irrtum des Druckers bereits 1947 bzw. 1966 von Christhard Mahrenholz erkannt und seitdem in der Scheidt-Literatur verbreitet worden.
Was als „Kosmos liturgischer Kunst“ (S. 16) angekündigt wird, bringt bereits nach zwölf Durchführungen von Kyrie-Gloria und 9 x 6 = 54 Magnificat-Versus und 1 Credo-Orgelchoral – insgesamt also nach 67 im Durchschnitt kurzen Einzelstücken – auch dem geduldigsten Hörer Konditionsverluste und Verdruss. Nie und nimmer hat Scheidt an solch eine Mammut-Präsentation gedacht, sondern allein und immer nur an eine Verbindung mit den vokalen Pendants – dies sollte für eine heutige „historisch informierte“ Aufnahme der Kyrie- und Magnificat-Zyklen eine absolute conditio sine qua non sein (es gibt bereits erstaunlich einfallsreiche Realisierungen der Alternatimpraxis; Mahrenholz u. a. liefern dazu sämtliche Notentexte). 
Abwechslung vermittels dreier Orgeln zu schaffen, gelingt nur in einem gewissen Maße, weil das charakteristische Toucher von Franz Raml sogleich wieder vereinheitlichend wirkt, eine Anschlagskultur, die jede Akzentuierung, Dynamisierung der Linie durch dichtes Dauer-Nonlegato vermeidet, neutralisiert – was angesichts des zeitgenössischen konzertierenden Stils zu hinterfragen wäre. Aufs Ganze gesehen gewiss eine enorme Fleißarbeit, jedoch mit einigen Fragezeichen.
 
Klaus Beckmann