Synagogalmusik, Band 2

Josef Löw: 10 Improvisationen op. 541 für Orgel, bearb. von Martin Wenning

Verlag/Label: Edition Merseburger 1866
erschienen in: organ 2012/02 , Seite 57

Mit der neuen Reihe Synagogalmusik unternimmt der Merseburger-Verlag einen Versuch, den Blick auf ein bisher eher vernachlässigtes Kapitel der Musikgeschichte zu richten und Musik zu veröffentlichen, die für die jüdische Liturgie und Orgeln in Synagogen bestimmt war.
Infolge der jüdischen Aufklärung (Haskalah) in Europa kam es seit Beginn des 19. Jahrhunderts neben der Reformierung textlicher Traditionen, sprachlicher Assimilation (vor allem in deutschsprachigen Ländern) auch zur Modernisierung der Gottesdienste, wodurch nun auch westliche Kunstmusik, so auch Orgeln und Orgelmusik, Eingang in die liberalen Synagogen fanden. Mit diesen Neuerungen und dem gleichzeitigen Widerstand jüdischer Traditionalisten vollzog sich die Spaltung des Judentums in Orthodoxie und neue liberale Richtungen. Durch die neue Rolle des Kantors (anstelle des traditionellen Chasans, der sich vor allem durch seine liturgischen Kenntnisse auszeichnete) entwickelte sich ein eigenes musikalisches Repertoire für liberale Gemeinden: die unbegleitete Improvisation verschwand allmählich zugunsten metrisch gebundener, notierter Melodien mit Begleitung von Klavier, Harmonium oder Orgel.
So entstanden zunehmend vom romantischen Musikstil beeinflusste Kompositionen, die auf der Basis westeuropäischer Kultur aufgebaut waren, wie die Werke der jüdischen Kantoren Salomon Sulzer (1804-90), Moritz Deutsch (1818-92) Louis Lewandowski (1821/23-94) oder des jüdischen Komponisten, Klavierlehrers und Organisten deutsch-böhmischer Nationalität Josef Löw (1834-86). 
Danach, um 1900, begannen jüdische Komponisten, in ihrer Vokal- und Instrumentalmusik, in Kammermusik und Orchesterwerken, das Verhältnis zeitgenössischer westeuropäischer Kompositionsstile und östlicher Elemente liturgisch geprägter traditioneller Melodien neu zu definieren. Das stärkere Verständnis jüdischer Identität führte zu einer bewussteren Verbindung westlicher Kunstmusik mit jüdischen Traditionen wie der hebräischen Psalmodie und der biblischen Kantillation, ihre Werke wurden nun auch in Konzertsälen präsentiert.  
Die Reihe Synagogalmusik beginnt mit 12 Präludien nach alten Synagogalintonationen (aus den liturgischen Kontexten von Schabatt, Pessach, Schawuot, Sukkot, zur Tempelweihe und Tempelzerstörung, Rosch ha-Schana und Jom Kippur) von Moritz Deutsch. Sie basieren auf liturgischen Gesängen wie Adir Hu, Al Harischonim, Ana und Hodu, Ki Mizion, Maos Zur, Barechu, Sch’ma Jisrael, Jaschbienu und Selach Na.
Diese durchaus reizvollen und abwechslungsreichen Stücke unterscheiden sich kaum von der liturgischen Gebrauchsmusik des 20. Jahrhunderts, wie wir sie von christ­lichen Komponisten der Romantik kennen; nur das letzte Präludium ist kompositorisch ambitionierter und in zwei kontrastrierenden Teilen etwas größer angelegt. Moritz Deutsch hatte in Breslaus neuer Synagoge (1872 eingeweiht, sie war die zweitgrößte nach der Berliner neuen Synagoge und eine der prachtvollsten im damaligen deutschen Reichsgebiet) mit zwei Manualen und dreißig Registern nur eine relativ bescheidene Orgel zur Verfügung; dagegen fanden sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in vielen Synagogen wesentlich größere Instrumente. 
Deutschs 12 Präludien waren ursprünglich für Orgel oder Pianoforte bestimmt und daher auf nur zwei Systemen notiert; vielleicht hätte man es dabei belassen können, dies würde die Ausführung  ohne Pedal vereinfachen; umgekehrt dürften geschickte Organistinnen und Organisten doch ohne weiteres eine Pedalstimme aus zwei Systemen herausziehen können.
Dies gilt auch für Band 2 der Reihe mit 10 Improvisationen op. 541 von Josef Löw, wobei sich hier zusätzlich noch einige sehr schöne und überraschende Modulationen finden, die dieser Musik eine besondere Würze verleihen. Von Löw sind 680 Opuszahlen bekannt; neben Stücken für Klavier, Orgel und Harmonium finden sich auch Werke für Orchester wie die Neuen Ungarischen Tänze oder die Böhmischen Tänze sowie Chormusik und päda­gogische Arbeiten.
Dem Herausgeber und den musikwissenschaftlichen Begleiterinnen der neuen Reihe, namentlich Tina Frühauf (New York), Inga Hardt (Leipzig) und Martin Wenning (Kassel), sei die Initiative gedankt. Es mögen viele weitere Bände Syna­gogalmusik folgen! 

Torsten Laux