Widor, Charles-Marie

Symphonie IV op. 13,4

Ausgewählte Orgelwerke, Urtext

Verlag/Label: Carus 18.177
erschienen in: organ 2017/03 , Seite 52

„Kennen Sie die Widor-Toccata…?“ – Diese Frage wurde mir in meinem professionellen Organistendasein schon unzählige Male gestellt, und jeder orgelaffine Musikliebhaber wird sie in der Regel ohne Zögern mit einem klaren „Ja“ beantworten können, auf die genauere Nachfrage: „Welche von beiden …?“, dann jedoch eher doch ins Grübeln geraten. Kaum ein Komponist, dessen Name zu Lebzeiten durchaus mit ganz anderen, „orgelfernen“ mu­sikalischen Genres assoziiert wurde wie mit der überaus populären Balletmusik La Korrigane (1880) oder mit den Klavierliedern, wird heute so radikal auf sein Orgelwerk reduziert wie Charles-Marie Widor.
Inspiriert von dem herrlichen hundertstimmigen 32-Fuß-Instrument (1862) von Aristide Cavaillé-Coll in der bedeutenden Pariser Pfarrkirche Saint-Sulpice (6e Arr.), wo Widor im Januar 1870 nach dem Tod seines Amtsvorgängers Louis-James-Alfred Lefébure-Wély seinen insgesamt 64-jährigen Orga­nis­­ten­dienst antrat, erschien bereits 1872 die Sequenz der ersten vier Orgelsinfonien als op. 13, denen mit op. 42/1-4 sowie opp. 70 und 73 bis zum Jahr 1900 noch weitere sechs monumentale Orgelsymphonien folgen sollten. Zwar sind die knapp sechzig Einzelsätze von insgesamt unterschiedlicher Stilistik (und bisweilen auch kompositorischer Qualität; besonders den früheren Werken aus op. 13 haftet bisweilen noch eine gewisse, heute allzu oberflächlich und operettenhaft wirkende süßliche Salonhaftigkeit an), aber aufs Ganze gesehen ist über die rund drei Jahrzehnte ihrer Entstehung eine großartige Entwicklung des orgelsymphonischen Stils zu beobachten mit den Kulminationspunkten der großen H-Dur-Symphonie Nr. 8 (op. 42/4) und der vielfach impressionistisch inspirierten Symphonie Romane (Nr. 10 über das österliche „Haec dies“). Insofern ist es mehr als bedauerlich, dass viele dieser wunderbaren symphonischen Orgelstücke gegenüber dem singulären Bekanntheits- bzw. Beliebtheitsgrad der „Toccata“ aus Widors Fünfter heute so gnaden- und chancenlos ins Hintertreffen geraten sind.
Widors frühe „Orgelsymphonien“ op. 13 sind geprägt durch ihre nicht allzu formstrenge suitenähnliche Anlage. So bezieht sich auch die sechssätzige Symphonie Nr. 4 noch spürbar auf die neo-klassischen Ideen der „Lemmens-Tradition“ (der Widor entstammt) und kombiniert in reizvoller Weise klassizistische Formelemente (Toccata und Fuge) mit aparten romantischen Charakterstücken – darunter das bekannte „Andante cantabile“, einer der beliebtesten langsamen Sätze des Komponisten.
Die Carus-Edition basiert auf der letzten zu Lebzeiten Widors veröffentlichten Ausgabe, Paris (J. Hamelle) 1929. Darüber hinaus fanden diejenigen Korrekturen Berücksichtigung, die der Komponist nach Veröffentlichung jener editio ultimo durch Hamelle von 1929 noch von eigener Hand angebracht hatte; zur Klärung einzelner Lesarten wurden zudem frühere Revisionen von 1887, 1901, 1920 vergleichend hinzugezogen. Vorschläge des Herausgebers zur Ausführung einzelner Stellen ergänzen diese Neuausgabe.
Seitdem die Urheberrechte der einschlägigen Originalausgaben abgelaufen sind, haben einige Verlage durchaus verdienstvoll damit begonnen, diese Werke neu aufzulegen. Editorisch stellt dieses Unterfangen die Herausgeber allerdings immer wieder vor Probleme, da Widor es liebte, nachträglich ständig Änderungen am Notentext vorzunehmen, Sätze einzufügen, zu modifizieren oder ganz herauszunehmen. Dazu kommt der Umstand, dass Eintragungen in seinem eigenen Handexemplar – aus dem er selbst spielte und interpretierte – offenbar nicht immer den Weg bis in die „offiziellen“ Druckfassungen fanden, sich manche Stücke also über Jahrzehnte in einem stetigen, mehr oder weniger abgeschlossenen Veränderungsprozess befanden.
Die hier nunmehr vom Stuttgarter Carus-Verlag mit dieser Ausgabe „neu“ vorgelegte Symphonie IV (op. 13/4), für die Georg Koch als Herausgeber verantwortlich zeichnet, bestand in der Urfassung von 1872 nur aus vier Sätzen („Toccata“, „Fugue“, „Andante“, „Final“) und wurde bereits 1887 mit dem „Andante cantabile“ und dem aparten „Scherzo“ (c-Moll) quasi erweitert. Außerdem wurde das ursprüngliche „Andante“ nun wegen des neu eingefügten gleichnamigen Satzes in „Adagio“ umgetauft; zudem wurden beim letzten Satz (jetzt: „Finale“), besonders ab Takt 91 etwa 30 Takte stark modifiziert. Ob diese „sekundären“ Veränderungen tatsächlich immer echte Verbesserungen darstellen, muss der Spieler bzw. der Herausgeber mitunter selbst entscheiden, denn auch die ursprüngliche Fassung des „Final“ hat durchaus ihren Reiz.
Die Carus-Ausgabe ist im Gegensatz zu den vom Notenstich bzw. Druckbild her etwas unscharf „verwaschenen“ Originalausgaben – die in vielerlei Hinsicht Fragen aufwerfen – sehr gut zu lesen und (ein nicht zu unterschätzender Vorteil!) mit Taktangaben versehen. Dem vo­rangestellt ist ein lesenswertes Vorwort der Herausgebers über Widor mit zeitgeschichtlichen Anmerkungen zum Orgelbau und zur Orgelmusik in Frankreich vor der Jahrhundertwende und natürlich zum Werk selbst sowie einem ausführlichen kritischen Bericht am Ende.
Summa summarum handelt es sich hier um eine gründlich recherchierte, benutzerfreundlich aufgemachte und insofern empfehlenswerte Edition dieser frühen Symphonie, von der man einstweilen hoffen darf, dass ihr noch weitere (op. 42/1 und op. 73 Romane befinden sich in Vorbereitung) folgen werden.

Christian von Blohn