Splendour

Organ Music & Vocal Works by Buxtehude, Hassler, Praetorius & Scheidemann

Verlag/Label: deutsche harmonia mundi 88985437672 (2016)
erschienen in: organ 2017/03

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Wahrlich eine Pracht! Welch ein Genuss, so in die „goldene“ Blütezeit der norddeutschen Orgelkunst einzutauchen, authentisch dargeboten von einer Interpretin und Kennerin ersten Ranges, der Japanerin Kei Koito, auf der 1624 von Hans Scherer dem Jüngeren erbauten Orgel in Sankt Stephan zu Tangermünde. Diese einzig erhaltene große frühbarocke Orgel mit sogenanntem „Hamburger Prospekt“ wurde 1994 von der Potsdamer Orgelbauanstalt Alexander Schuke denkmalgerecht restauriert. Der antiken Weisheit „variatio delectat“ folgend, durchwirkt die Virtuosin ihr Recital mit A-cappella-Sätzen (Psalmen, Chorälen) des 16. und 17. Jahrhunderts sowie gregorianischen Antiphonen, die den Orgelstücken textlich und melodisch entsprechen. Hierzu gewann sie das vorzügliche Vokalensemble Il Canto di Orfeo, das sich unter Leitung des Organisten und Cembalisten Gian­luca Capuano auf die mitteltönige Stimmung der Orgel souverän einstellte.
Was gibt es im alten Hamburg nicht alles zu entdecken! Man denke nur an die Organisten-Dynastie der Praetorii, deren Stammvater Hie­ronymus (1586–1629 Organist an St. Jacobi) mit seinen ausgreifenden Orgel-Versetten die norddeutsche Tradition des Cantus-firmus-gebundenen Orgelchorals begründete. Bemerkenswert zudem, wie rasch sich die venezianische Mehrchörigkeit nach Norddeutschland fortpflanzte. Wobei Jan Pieterszoon Sweelinck, der Hieronymus’ Söhne Jacob d. J. und Johann unterwies, als Zwischenträger in Betracht kommt. Leider gingen viele Dokumente zur Geschichte der Hamburger Kirchenmusik beim großen Brand von 1842 in Flammen auf.
Eine erstaunliche Stilsynthese, in die die Kunst der englischen Virginalisten, vermittelt durch Sweelinck, ebenso einging wie die Harmonie- und Kontrapunktlehre Zarlinos, ge­lang dem Hamburger Katharinen-Organisten Heinrich Scheidemann (ca. 1596–1663). Da die Orgel der hafennahen Kirche 1587 von Hans Scherer dem Älteren 1587 gebaut wurde, dürfte die tastenflinke Kontrapunktik seiner Fantasiae auf der Scherer-Orgel zu Tangermünde dem ursprünglichen Klangbild einigermaßen nahe kommen.
Respekt weckt Kei Koito auch vor der Meisterschaft des Schles­wiger Hoforganisten Franz Tunder, seit 1641 Marienorganist zu Lübeck, und des Lüneburger Johannes-Organisten Georg Böhm, der mit hoher Wahrscheinlichkeit den jungen Bach unterrichtete. Vermutlich holte sich der Amtsvorgänger Dieterich Buxtehudes die venezianischen Anregungen bei Melchior Borchgrevnik in Kopenhagen, einem Schüler Giovanni Gabrielis. Böhms stilistische Gewandtheit bezeugen zwei Bearbeitungen des Luther-Chorals „Vater unser im Himmelreich“: einmal vierstimmig in Pachelbels Art, einmal mit ausgeziertem Sopran in modo italiano. Dass die Japanerin ihr leidenschaftliches Spiel mit aufschlussreichen Kommentaren begleitet, erhöht den Reiz dieser schmucken Edition.

Lutz Lesle