Sonaten und Variationen

Jongen: Sonata Eroïca op. 94 / Brahms (arr. Laurin): Variationen und Fuge über ein Thema von Händel op. 24 / Reubke: Sonate über den 94. Psalm

Verlag/Label: Centaur, CRC3559 (2017)
erschienen in: organ 2018/01 , Seite 57

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Künstler sind oft Menschen, die das Perfekte (er)schaffen möchten, etwas, das über das Hier und Jetzt hinausweist und zeitlose Gültigkeit besitzt. In der Musik bleibt da ein unüberbrückbarer Widerspruch: Da ist einerseits die Partitur, in der die Vorstellungen des Komponisten en detaille notiert sind, andererseits bedarf es aber eines Mittlers, der die noch „unbelebte“ Materie des „toten Buchstabens“ mit Geist und Leben erfüllen und ins eigentliche Dasein rufen, also in Klang umsetzen muss.
Die methodische Skala solcher „Mittler“ ist naturgemäß breitgefächert. Da gibt es die Exzentriker, die mit häufig maniriertem Spiel zuerst sich selbst in Szene setzen und so vordergründig das Interesse des Hö­rers wecken. Am anderen Ende der Skala steht der „asketische“ Akademiker, sklavisch darum bemüht, ja nichts „falsch“ zu machen und die Notation mit vermeintlich absoluter Perfektion in Töne umzusetzen, frei nach Bach: „Alles, was man tun muss, ist, die richtige Taste zum richtigen Zeitpunkt zu treffen …“
Joby Bell präsentiert sich insbesondere bei Joseph Jongen und Julius Reubke als Vertreter des Akademischen. Ähnlich wie das Druckbild guter Noten­editionen klingt auch die Musik unter seinen Händen und Füßen gestochen scharf, gleichsam lupenrein in der Artikulation, fast schon metronomisch kontrolliert in den gewählten Tempi. Und gerade darin scheint ein Schwachpunkt der Einspielung zu liegen: Geschwindigkeit, das wissen wir spätestens seit Einstein, ist eine relative Größe. So muten die Tempi dieser Aufnahme seltsam blutleer an, ja fast schon statisch. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die recht trockene Raumakustik, die ein weitaus zügigeres (und freieres) Spiel vertragen hätte. So wirkt das Ganze recht aseptisch, entzaubert und aller mys­tischen Momente entkleidet. Verstärkt wird dieser Eindruck durch das Fehlen einer „typischen“ Kirchenakustik. Und so vermisst man akustisch umso mehr den Tiefengrund, auf dem jene opulenten Klanggemälde erst effektiv zur Entfaltung kommen.
Gerade die beiden Sonaten von Jongen und Reubke – so unterschiedlich sie auch sein mögen – sind Werke voll emotionaler Impulsivität, denen man mit einer objektivierend distanzierten Haltung musikalisch nicht beikommen wird. Hier darf, hier muss die Musik impulsiv, vorwärtsdrängend, ja auch mal ungestüm aufbrausend klingen.
Wie anders klingen da Brahms’ Variationen und Fuge über ein Thema von Händel. Hier spürt man sogleich, dass sich Joby Bell musikalisch „zu Hause“ fühlt. Die Tempi passen, wirken lebendig, sind gar nicht mehr statisch. Die Musik blüht auf, entwickelt überraschende Farbpracht. Dass dieses von Rachel Laurin bearbeitete Werk nach den Worten des Interpreten am Beginn seiner Überlegungen zur vorliegenden CD stand, glaubt man beim Hören sofort. Nicht verstehen hingegen muss man, dass die Wahl von Jongen und Reubke „nur folgerichtig“ gewesen sei, ebenso wenig, dass der Weg auf der Suche nach dem geeigneten Instrument Joby Bell gar „zwangläufig“ zum Opus 29 der Firma Paul Fritts & Co. geführt habe, einem Instrument aus dem Jahr 2009, angelehnt an den baro­cken Orgeltyp norddeutsch-niederländischer Provenienz, das in sich wunderbar rund und stimmig klingt.

Wolfgang Valerius