Elisabeth Lutyens
Sinfonia for organ op. 32 (1955)
Elisabeth Lutyens (1906–83) war in England eine Wegbereiterin der Zwölftontechnik. Sie studierte zunächst an der École normale de Musique in Paris, nach privaten Kompositionsstudien sodann am Royal College of Music in London, dort war sie Kompositionsschülerin von Harold Darke, der sie auch an der Orgel unterrichtete. Zu Beginn der 1930er Jahre übernahm sie für ein paar Jahre eine Stelle als Organistin der St. Mary’s Church in Woolpit, Suffolk. In ihrem Œuvre finden sich mehrere Orgelwerke.
Lutyens schrieb die 1955 entstandene Sinfonia für ein Konzert im April 1956 in der Royal Festival Hall. Die Uraufführung spielte Ralph Downes an der 1954 vollendeten, neoklassizistisch ausgerichteten Harrison & Harrison-Orgel, für die er als Sachverständiger maßgeblich verantwortlich war. Gleichwohl verzichtete Lutyens auf konkrete Registrieranweisungen, bezeichnete jedoch die gewünschten Lagen. Den Grundlagen der Zwölftonkomposition folgend, vermied sie hierbei konsequent Oktavverdopplungen und beschränkte sich auf die Äqualklänge in der 8’- oder 4’-Lage; nur der Schlusston im Pedal sollte mit 16’ alleine gespielt werden. Downes stellte Lutyens strenge Betrachtungsweise in Frage und plädierte für eine freiere Behandlung der Methode, da Registermischungen unterschiedlicher Fußtonlagen dem Orgelklang inhärent seien. Gewiss ist eine authentische Registrierweise an den meisten Orgeln schwierig. Etwa die Darstellung linearer Crescendi und Diminuendi, vom vierfachen pppp bis zum ff, nur mit 8’-Registern. Der Herausgeber Tom Winepenny empfiehlt im Vorwort dieser sorgsam bestellten Ausgabe hierfür das gelegentliche Hinzuziehen von 4’-Registern.
Palindromisch sind die einzelnen Abschnitte des etwa siebenminütigen Werks angeordnet: „Molto lento, doce semplice“ – „Allegro“ – „Moderato, amabile affetuoso“ – „Allegro“ – „Molto lento, dolce semplice“. Im Zentrum steht das „Moderato“ mit fast fünf Minuten intendierter Spieldauer, es ist ebenfalls symmetrisch komponiert. Der Schluss greift die langsame Einleitung rhythmisch palindrom auf. Beide enthalten die erste Hälfte der zugrunde gelegten Zwölftonreihe und deren Umkehrung. Die beiden Allegros-Teile entwickeln sich aus den Tönen 7 bis 12 der Grundreihe nebst deren Inversus-Gestalt. Rhythmisch und metrisch ist das prosaartig ausgestaltete, zumeist ruhig fließende Werk unmittelbar fasslich. Im Vordergrund stehen melodische Linien, die sich häufig solistisch oder im zweistimmigen Kontrapunkt zueinander bewegen. Die verschiedenen Ausdruckscharaktere der Stimmen werden vermittels minutiöser Angaben hinsichtlich der Phrasierung, auch in der Mikrostruktur, sowie der Artikulation und Dynamik plastisch dargestellt.
Lutyens Sinfonia dokumentiert ihren reifen Zwölfton-Stil und ist gekennzeichnet durch Prägnanz und Konsequenz in den Texturen. Das tiefgehende Werk weist einen gemäßigten Schwierigkeitsgrad auf und könnte dementsprechend, eine starke dynamische Differenzierungsfähigkeit weniger Klangfarben vorausgesetzt, künftig öfter in Konzertprogrammen zu hören sein.
Jürgen Geiger