Iranyi, Gabriel

Shir ha ’Maalot / Aufstiegsgesang / Song of Degrees für Orgel solo (1985)

Verlag/Label: Verlag Neue Musik Berlin, NM 1778
erschienen in: organ 2015/01 , Seite 60
Es ist ungewöhnlich für einen Komponisten, dass er die Übersetzung eines Werks als Werktitel in verschiedenen Sprachen zulässt. Besondere Aufmerksamkeit gilt dem hebräischen Ersttitel Shir ha ’Maalot, der den jüdischen Hintergrund Gabriel Iranyis (geboren 1946) aufzeigt. Inhaltlich bezieht er sich auf den kurzen Psalm 121, der ein ausformulierter Segen ist: „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt …Siehe, der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht“ (Luther).
Die Vorarbeit der Komposition erläutert Iranyi in einer Erklärung des kompositorischen Materials. So ist das musikalische Anagramm J-E-R-U-S-A-L-E-M auf Deutsch, Englisch, Italienisch und Französisch sowie in der Hebräischen Fassung für Tonmaterial und Struktur maßgeblich. Daraus entwickelt der Komponist ein „Alpha“-Motiv, das im Original, in der Umkehrung, Krebsumkehrung und in modalen Varianten auftritt. Im Schlussteil wird der „Alpha-Akkord“ mit einem symmetrisch-rhythmischen Mo­tiv (Viertel, Achtel, punktierte Viertel) kombiniert: „Es soll versucht werden, den unendlichen Puls eines Ortes (physisch und spirituell), in welchem Glaube und Geschichte zusammentreffen, nachzubilden“ (Vorwort). Ein anderer Ausgangspunkt ist die Fibonacci-Reihe, der bestimmte rhythmische Strukturen und Proportionen der Form zugrunde liegen. 
Das gestreckte „Alpha-Motiv“ klappt sich nach unten zu einem strahlenden Akkord auf (J-E-R-U-S-A-L-E-M). Im nachfolgenden tiefen murmurando im Pianissimo drückt sich Bedrängung in synkopischer Polyphonie aus. Weitere Elemente bilden sich verdichtende Akkorde sowie Laufwerk, das sich bis in die hohen Lagen der Orgel erstreckt. Nach Verarbeitungen und Erinnerungen fügt sich im Finale der oben erwähnte Rhythmus als Ostinato ein, der schließlich ins Pedal-C sinkt, während die Finger sich als Spaltklang in die Höhe entwickeln. Es entsteht große Spannung. 
Eine Aufführungsdauer ist nicht angegeben; man sollte mit einer Länge von 10 bis 15 Minuten rechnen. Die Musik ist nur etwas für geübte Spieler, bleibt aber sowohl vom Leseaufwand als auch von der Aufführbarkeit her im Rahmen des Möglichen. Zur Übersichtlichkeit trägt die fabelhafte Notation und das große Format bei. Der Tonumfang der Komposition reicht bis zum c4. Die Komposition ist dem großen Oskar Gottlieb Blarr gewidmet, die Registrierungsangaben fügte Martin Schmeding hinzu. 
 
Dominik Susteck