Boslet, Ludwig
Sechs Orgelsonaten
Joachim Fontaine an fünf spätromantischen Orgeln: Völklingen/Saar (St. Eligius: Stahlhut/Klais 1925-27/1982; Ev. Versöhnungskirche: Walcker/Schuke 1930/1979), Kaiserslautern (St. Marien: Klais 1905/2003), St. Ingbert/Saarpfalz (St. Hildegard: Späth/Mayer 1933/95+ 2004) und Trier (St. Martin: Klais 1931/98)
Bewertung: 3 Pfeifen
Sein Andenken dürfte inzwischen selbst den professionellen Organistenzirkeln weitgehend abhanden gekommen sein, galt er doch vor knapp hundert Jahren noch als eine der profiliertesten Regionalgrößen der Orgel zwischen Saar und Mittelrhein: Die Rede ist von dem saarpfälzischen Organisten und Musikpädagogen Ludwig Boslet (1860-1951), dessen Orgelmusik im sakralen Konzertbetrieb ein karges Schattendasein fristet. Der 2010 anstehende 150. Geburtstag des produktiven Lehrer-Organisten und Rheinberger-Epigonen bot nun Anlass genug, mit einer diskophilen Edition seiner Sechs Orgelsonaten bei dem mitteldeutschen Klassiklabel Querstand auf das (fast) vergessene Orgelwerk des einstigen Trierer Domorganisten respektvoll hinzuweisen.
Boslet galt seiner eigenen Zeit als (komponierender) Orgelvirtuose im besten Sinne, wobei rund 45 seiner Opera (und Opuscula) bei teils bei namhaften Verlagen und in mancher Neuauflage veröffentlicht wurden. Stilistisch adelten ihn seine Anhänger hierzulande vollmundig als den Deutschen Guilmant. Es lassen sich gewiss Parallelen ausmachen, beide waren wirkliche Klassizisten auf der Orgel und pflegten einen jeweils traditionellen Kompositionsstil; und beide kannten und schätzten sich zudem. Allerdings fehlt es der Musik des Pfälzers an jener leichtfüßigen Eleganz und Größe formaler Geschlossenheit, welche etwa die acht Orgelsonaten des illustren Pariser Kollegen auszeichnen, der als unmittelbarer Nachfolger Widors als Leiter der Orgelklasse am traditionsreichen Pariser Conservatoire immerhin die damalige nationale Orgelelite Frankreichs ausbildete, darunter Orgelgrößen wie Louis Vierne, Marcel Dupré oder Louis Bonnet. Zudem kommt Boslet natürlich nicht ansatzweise jene orgelgeschichtliche Position zu, die Guilmant mit seinen weltberühmten Concerts historiques im Pariser Trocadéro-Palast oder mit seinen editorisch beispielhaften Ausgaben Alter Meister (Edition Schott, Mainz) einnimmt.
Der saarländische Organist Joachim Fontaine dokumentiert auf der vorliegenden Doppel-CD den musikalischen Lebensweg Boslets in der Saar-Pfalz-Mosel-Region. Boslet begann als kleiner Dorfschullehrer in der rheinpfälzischen Provinz, erhielt dann die Möglichkeit, an den Konservatorien in Stuttgart und München (dort u. a. bei Joseph Gabriel Rheinberger) zu studieren, und brachte es zuletzt bis zum Domorganisten in Trier. Sein prägender erster Orgellehrer war Immanuel Faißt, der 1857 die heutige Musikhochschule in Stuttgart mitbegründete und sie sein ganzes Leben lang leitete. Die hier eingespielten fünf (spät-)romantischen sekundär teils veränderten regionalen Orgeln kannte und spielte Boslet (im Originalzustand) teilweise selbst. Die 1905 eingeweihte Klais-Orgel der Marienkirche Kaiserslautern, zu der eine Sachverständigen-Expertise aus der Feder Boslets existiert, erklingt auf dieser CD erstmals in der von der Erbauerfirma 2003 denkmalgerecht restaurierten klanglichen Originalgestalt.
Neben seiner Domorganistentätigkeit in Trier war Boslet primär in der diözesanen Kirchenmusikerausbildung sowie als Musiklehrer der Domsingknaben in den Fächern Orgel, Klavier, Gesang und Musiktheorie tätig gewesen. Als Komponist schuf er neben einzelnen Klavierstücken und weltlichen Chorkompositionen zahlreiche religiöse Musik, wobei die Orgelwerke überwiegen. Seine tonsprachlich konservativen, in der allgemeinen Beethoven-Rezeption (klassische Sonatenform) und unter dem Einfluss des Caecilianismus stehenden Orgelsonaten sowie die übrigen, meist freien Orgelwerke (eine Handvoll davon finden sich als Lückenbüßer auch auf der Doppel-CD) sind geprägt von der restaurativen Ästhetik seines Lehrers Rheinberger. In Hinblick auf den Einfallsreichtum sowie die formale und harmonische Gestaltung allerdings bleiben Boslets Kompositionen denen seines Münchener Lehrmeisters oder anderer Rheinberger-Schüler (etwa Ludwig Thuille) spürbar unterlegen und wirken mitunter blass bis akademisch-gestelzt. Mit der 1908 fertiggestellten Weigle-Orgel des Trierer Doms, zweigeteilt auf den beiden Emporen oberhalb des Chorgestühls, hatte Boslet ein ideales, damals hochmodernes Instrument für die Realisation seiner spätromantischen Tonsprache zur Verfügung (welches bedauerlicherweise nach dem zweiten Weltkrieg beseitigt wurde).
Fontaine präsentiert sich organistisch als solider Anwalt der Musik Boslets, stets hörbar bemüht, der streckenweise sperrigen und bisweilen langatmigen Partitur ein Maximum gestalterischer Kontraste zu entlocken, zumal der Tonmeister Markus Brändle hier durchgängig eine ganz ausgezeichnete tontechnische Arbeit abgeliefert hat.
Jenseits aller Spekulationen über den künstlerischen Primärnutzen dieser Musik und der Frage, inwieweit es sich dabei letztlich um wenig mehr als scholastisch-veredelten, letztlich schwülstigen Organistenzwirn aus der katholischen Musikprovinz der Jahrhundertwende handelt, bietet diese Publikation jedoch unter rein berufssoziologischen Aspekten instruktive Einblicke hinsichtlich eines mit Boslet ausgestorbenen musikalischen Berufsprofils: nämlich das des ehedem hierzulande so typischen deutschen Lehrer-Organisten.
Wolfram Adolph