Escaich, Thierry (*1965)

Sechs Choral-Etüden für Orgel

Verlag/Label: Schott Music, ED 21725
erschienen in: organ 2015/04 , Seite 62

Naji Hakims Hommage à Jean Langlais lieferte 2007 den eröffnenden Beitrag zum Ratinger Orgelbuch – diese Partitur sollte keine Eintagsfliege bleiben. Schon 2009 steuerte David Briggs sein Triptyque de Noël dazu bei, ein Jahr darauf folgte das halbe Dutzend Choralbearbeitungen aus der Feder von Thierry Escaich (Paris), die soeben im Druck erschienen sind. Die letztlich päda­gogische Idee hinter diesem fortlaufenden Auftragskompositions-Projekt Ratinger Orgelbuch: Im Sinne von J. S. Bach und dessen Orgelbüchlein soll vor allem jungen Interpreten ein Kompen­dium anspruchsvoller Orgelmusik an die Hand gegeben werden, in erster Linie zum gottesdienstlichen Gebrauch. Dieser Maßgabe ent­spre­chen Escaichs Sechs Choral-Etüden mit einer Aufführungsdauer von jeweils zweieinhalb bis fünf Minuten voll und ganz, zumal der Franzose und Katholik Escaich hier ganz bewusst durchwegs reformatorische Choräle vertont, die auch Bach selbst geläufig waren.
Zielte Bachs Sammlung laut Vorwort auf den „anfahenden Organis­ten“, also den Orgelanfänger, muss man im Hinblick auf Escaichs Etüden allerdings schon gut ausgebildete technische Fertigkeiten voraussetzen. Einfach zu spielen ist seine Musik gewiss nicht. Aber die Mühe des Einstudierens und Übens lohnt unbedingt! Und wer sich womöglich schon mit anderen Werken des Komponisten vertraut gemacht hat, wird sich schnell in die Finessen seiner auch in den Etüden anzutreffenden typischen Rhythmik und Harmonik hineinfühlen.
Das beginnt schon gleich in dem stimmungsvollen Carillon über „Nun freut euch, ihr Christen“, in dem der Choral eher angedeutet als ausgearbeitet wird. Omnipräsent dagegen ist der Themenkopf von Wie schön leuchtet der Morgenstern – und dennoch „zwischen den Zeilen“ versteckt. Reizvoll die aparte Regis­trierung mit Flûte 4’, Tierce 1 3/5’ plus Trémolo, vermittels derer der Escaich zunächst drei Melodielinien gegen- und miteinander mäandrieren lässt, dann zu einem bewegten, von Grundstimmen der 8’-Lage geprägten Mittelteil überleitet und von dort aus eine große dynamische Entwicklung entfaltet – bis diese Etüde im Solo der Flûte 4’ mündet. Herzliebster Jesu ist eine intensive Meditation nicht über den cantus firmus, sondern über den Inhalt der Choralverse: Verurteilung und Kreu­zigung Jesu. Plastisch, aber nirgends plakativ wird hier gegeißelt und gehämmert, ein wenig im Stil von Jean Guillou. Christ ist erstanden strahlt österlich gleißend als erratischer Block im Mixturenplenum; auch hier ist es der Themenkopf, der vor allem den virtuos angelegten Pedalpart dominiert.
Stilistisch völlig anders gestaltet Escaich den Passionschoral O Haupt voll Blut und Wunden: In barocker Manier zitiert er vierstimmig den Choral – und lässt ihn geradezu „stö­ren“ durch kurze Einwürfe, die wie sprechende Gesten des Schmerzes und der Verzweiflung wirken – eine stille Meditation.
Einmal mehr bereichert das Ratinger Orgelbuch mit dieser Edition das Repertoire um charakteristische, höchst expressive Stücke.

Christoph Schulte im Walde