Reger, Max

Sämtliche Orgelwerke, Vol. 1

Sechs Trios op. 47 / Drei Choralfantasien op. 52 / Dreißig kleine Choralvorspiele op. 135 a / Phantasie und Fuge d-Moll op. 135 b

Verlag/Label: Editions Hortus HORT086-087
erschienen in: organ 2012/04 , Seite 56

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Sollten die Zeiten nun endlich und erfreulicherweise überwunden sein, in denen Regers Orgelmusik insbesondere unserem westlichen Nachbarn Frankreich als klanglicher Inbegriff des polternden „häßlichen Deutschen“ galt? Mit entsprechender Neugier habe ich die beiden CDs des vorliegenden „Vol. 1“ aufmerksam behorcht und mit grundsätzlicher Zustimmung gratuliere ich dem jungen, aus Toulouse stammenden Interpreten Jean-Baptiste Dupont (geb. 1979) zu diesem Unterfangen, dessen Ziel es auch ist, für Reger eine Lanze in Frankreich zu brechen.
Dupont kommt ursprünglich vom Klavier her und hat sich vergleichsweise spät der Orgel zugewandt. Zu seinen prägenden Lehren an der Orgel zählten Michel Bouvard, Louis Robilliard, Philippe Lefebvre und Thérèse Dussaut. Im April 2012 wurde er zum Organiste titulaire der Kathedrale zu Bordeaux ernannt. Wenn hinsichtlich des von ihm gepflegten Reger-Spiels dennoch einige Fragen bleiben, so geschieht das nicht der Beckmesserei wegen, sondern eher im Sinne einer anregenden Diskussion.
„Adaptiert Dupont Reger à la mode de Cavaillé-Coll?“, so meine erste Überlegung. Nein, dergleichen scheint der Interpret hier nicht zu intendieren. Für die Choralvorspiele op. 135 a und die Trios op. 47 hat er die Walcker-Orgel von St. Georg in Ulm (1904, 47/III/P; 2004 restauriert von Th. Kuhn/Schweiz) gewählt und hat damit optimale Gestaltungsmöglichkeiten für diese „kleinen“, gleichwohl sehr reizvollen Stücke. Großwerke wie Opp. 52 und 135 b (ungekürzt!) sollten auf großen, aber „modernen“ Orgeln erklingen, in diesem Fall auf den neueren großen Schuke-Orgeln des Magdeburger und des Königsberger Doms. Er begründet diese Wahl, weil die Großorgeln der Reger-Zeit es nur unter Schwierigkeiten oder angeblich gar nicht erlauben, die Fülle von Registerwechseln zu realisieren, die Reger vorgeschrieben hat. 600 (sic!) Registerwechsel hat Dupont allein auf Opus 52 verwendet – eine eindrucksvoll skopulöse Arbeitsweise und Akkuratesse.
Und damit sind wir inmitten der Interpretationsprobleme: Vieles wird wörtlich genommen, was hierzulande cum grano salis gehandhabt wurde und wird. Langsame und leise Stellen bewegen sich am akus­tischen Rand der Hörbarkeit, das gewalttätige Plenum dagegen überfordert bisweilen Lautsprecher und Ohren. So dauert Wachet auf … 22:31 Minuten, ohne dass die Fuge etwa schleppen würde – ganz im Gegenteil! Sicher ließe sich fragen, ob die neueren Instrumente von Schuke/Potsdam unter dem stilis­tisch-klangästhetischen Aspekt überhaupt „regertauglich“ sind; aber vielleicht sollte man den Spieß auch umdrehen: Die ideale Reger-Orgel bleibt ebenso wie die ideale Bach-Orgel stets eine Utopie!
Ich gestehe eine gewisse Ratlosigkeit. Und ich gestehe, Reger hier auch neu entdeckt zu haben als einen heute noch immer faszinierenden Komponisten, dessen Musik mich durch alle Himmel und Höllen führt, voll von Schrecknissen und von Entrückungen … Ist das ein Kompliment für den Interpreten? Ja, ich denke schon!

Martin Weyer