Middelschulte, Wilhelm

Sämtliche Orgelwerke, Band V: Originalkomposi­tionen 5

hg. von Hans-Dieter Meyer und Jürgen Sonnentheil

Verlag/Label: Bärenreiter Urtext BA 9205
erschienen in: organ 2012/02 , Seite 58

Bekannt ist Wilhelm Middelschulte vor allem durch seine Bearbeitungen der Bach’schen Chaconne oder dessen Goldberg-Variationen, die vermehrt in Orgelkonzertprogrammen zu finden sind. Weitaus seltener zu hören sind dagegen Kuriosa wie Perpetuum mobile über das e-Moll-Fugenthema BWV 548 für Pedal-Solo oder Bachs Toccata und Fuge d-Moll mit ergänzendem Klavierpart von Middelschulte. Echte Raritäten sind hingegen Originalwerke des 1863 in Westfalen geborenen Komponisten, der von 1891 bis 1942 in den USA lebte und wirkte. Diese findet mal allenfalls in Konzertprogrammen oder CD-Einspielungen des Mitherausgebers Jürgen Sonnentheil. Zusammen mit Hans-Dieter Meyer hat Sonnentheil nun sämtliche originale Orgelwerke des bei August Haupt in Berlin ausgebildeten Organisten und Kompo­nisten ediert.
So verdienstvoll das Bemühen von Verlag und Herausgeber auch ist, der fünfte und letzte Band der Sämtlichen Orgelwerke Middelschultes scheint mehr einer Verwissenschaftlichung der Kunst als einem real existierenden Bedürfnis des Musikers geschuldet zu sein. Allein schon Titel wie Kanonische Variationen oder Variationen und Kanons versprechen nicht gerade Verlockendes für die Repertoireaufstockung, geschweige denn Kaufgelüste. Doch wer sich einem solchen Editionsunternehmen stellt, darf nicht allein nach pekuniären Gesichtspunkten entscheiden.
Hat man sich erst über die eine oder andere „verbale Schotterpiste“ des Vorworts – manche Passagen scheinen da nicht wirklich redigiert worden zu sein – zum musikalischen Inhalt des Bandes vorgearbeitet, schmeckt man förmlich schon den Staub auf der Zunge: symmetrischer Umkehrkanon, paralleler Doppelkanon, symmetrischer Umkehr-Doppelkanon, durchkomponierter Parallelkanon. Wer dann noch nicht „kanonisiert“ ist, für den hält die Lamentation schließlich noch einen dreistimmigen Kanon in der Untersexte mit Krebs, Umkehrung und Krebsumkehrung bereit.
Der Vorwurf mancher seiner Kritiker, Middelschulte habe das Mittel zum Zweck selbst, zum Inhalt seiner Kompositionen gemacht, ist hier schwerlich von der Hand zu weisen. Für diejenigen, die in der Materie das Stadium der Fortgeschrittenen erreicht haben, dürfte der Band indes reichlich Anschauungsmaterial bieten. Nicht zuletzt aber als „Kontrapunkt“ zur derzeit grassierenden Neosinfonik in Orgelbau und Orgelkomposition hat dieser Band gewiss seine Daseinsberechtigung.

Wolfgang Valerius