Boëllmann, Léon

Sämtliche Orgelwerke, Band IV

für Orgel bear­beitete Werke, hg. von Helga Schauerte-Maubouet

Verlag/Label: Bärenreiter Urtext, BA 8465
erschienen in: organ 2012/04 , Seite 60

Léon Boëllmann (1862-97), durch seinen viel gespielten „Evergreen“ der französisch-romantischen Orgelliteratur Suite Gotique zu weltweiter Berühmtheit gelangt, studierte an der Pariser École Niedermeyer und war in jungen Jahren bereits Titularorganist der großen preisgekrönten Cavaillé-Coll-Orgel (1855) von Saint-Vincent-de-Paul in Paris. Das Orgelschaffen des allzu früh verstorbenen Schülers von Eugène Gigout, Clément Loret und Gustave Lefèvre spiegelt die elegante Welt des Pariser Fin de Siècle und der Belle Époque. Der Edition aus dem Hause Bärenreiter sind ein ebenso kundiges wie ausführliches Vorwort der Herausgeberin mit aufführungspraktischen Hinweisen, eine biografische Würdigung, der Textanalyse dienenden Faksimile-Seiten und ein Kritischer Bericht (dt., engl., frz.) vorangestellt.
Die Ausgabe gliedert sich in zwei Abschnitte: Werke von Leon Boëll­mann, von Komponisten seiner Zeit für Orgel oder Harmonium bearbeitet, sowie von Leon Boëllmann für Orgel bearbeitete Werke von Komponisten seiner Zeit. Sie ist Teil der ersten Urtext-Gesamtausgabe der Werke von Leon Boëllmann in sieben Bänden.
Der erste Teil überrascht sogleich mit einer echten „découverte“, nämlich Fantaisie dialoguée op. 35, eine der letzten Kompositionen Boëllmanns – im Sommer 1896 im schweizerischen Arosa entstanden und ursprünglich als dialogisierender Konzertsatz für Orgel und Orchester geplant –, die nachträglich von Gigout für Orgel solo bearbeitet wurde. Gigout und Boëllmann verband über das Schüler-Lehrer Verhältnis hinaus eine tiefe Freundschaft, ja der Schüler wurde von seinem kinderlos gebliebenen Lehrer am Conservatoire adoptiert. Gigout transkribierte den kontras­tierenden Orgel-Orchestersatz gekonnt. Aus dem Thema einer festlichen Maestoso-Einleitung entwi­ckelt sich nach einer kadenzartigen Überleitung eine Aria con variazioni und ein kecker Abschnitt à la scherzando, der nach sehr wirkungsvollen Steigerungen und getupften Pizzicato-Effekten triumphal-effektvoll in der Reprise (maestoso) endet.
Dagegen nimmt sich die Orgelbearbeitung Gaston Choisnels von Boëllmanns Klavierstück Ronde fran­çaise op. 37 uninspiriert-blass aus, was nicht zuletzt auch an der Komposition selbst liegen mag, die auf dem Klavier eine elegantere Wirkung entfaltet als auf der vergleichsweise schwerfällig-pompösen Orgel. Nach der nicht uninteressanten Gigout’schen Harmonium-Transkription von Priere á Notre-Dame aus dem oben erwähnten op. 25 folgen als Boëllmanns eigene Orgeltranskrip­tionen Camille Saint-Saëns’ „Marche du Synode“ aus der Oper Henry VIII, dessen kolossale Wirkung auf jeder mittelgroßen Orgel garantiert ist, und Vincent d’Indys aparte Sarabande aus einer kammermusikalisch besetzten Suite im alten Stil.
Auch diese frankophile Bärenreiter-Edition ist in Bezug auf die editorische Leistung der Herausgeberin Helga Schauerte-Maubouet (Paris), die sich als profunde Kennerin der französischen Orgelkunst des 19. und 20. Jahrhunderts in der Fachwelt hohes Ansehen erworben hat, von denkbar höchstem Niveau; vorzüglich sind dementsprechend auch die drucktechnische Aufbereitung und das Erscheinungsbild.

Stefan Kagl