Buxtehude, Dietrich

Sämtliche Orgelwerke

Teil 1-4: Freie Orgelwerke, Choralbearbeitungen, hg. von Claudia Schumacher

Verlag/Label: Schott Music, ED 21111-21114
erschienen in: organ 2013/02 , Seite 58

Diese Neuausgabe komplettiert die neue Schott-Serie mit hanseatischer Orgelmusik des Barock. Nun gibt es schon verschiedene ernstzunehmende Ausgaben mit Buxtehudes Orgelwerken. Deshalb stellt sich die Frage nach der Notwendigkeit einer weiteren Edition dieses Repertoires.
Das Vorwort, hier „Einleitung“, ist zweisprachig deutsch und englisch. Der Revisionsbericht spart nicht mit Platz, denn er enthält wohltuenderweise keine kryptischen Abkürzungen der sich unvermeidbar ständig wiederholenden Fachausdrücke. In allen vier Bänden gibt es diverse Faksimile-Abbildungen von Quellenmaterial.
Beim ersten Durchsehen besticht der sehr deutliche und gut zu lesende Notensatz. Die Pedaliter-Werke werden auf drei Systemen mit eindeutiger Pedalzuweisung der betreffenden Passagen wiedergegeben. Etwas gewöhnungsbedürftig ist die Notation der Pedalstimme im mittleren System bei der Choralbearbeitung Danket dem Herren, Vers II, BuxWV 181. Die Satzfolge des Te Deum laudamus BuxWV 218 entspricht hier der des Textes zu diesem Hymnus; in früheren Ausgaben war diese Satzfolge anders.
In der Einleitung werden zwei insbesondere für diese Edition charakteristische Richtlinien erwähnt. Zunächst geht es um eine musik­historisch orientierte Textkritik. Ein solches Verfahren ist durchaus dazu geeignet, den Editionstext kritisch weitestgehend der zu vermutenden satztechnischen Orthografie des Autografs anzunähern, indem man z. B. korrumpierte Passagen von vermuteten Übertragungsfehlern des jeweiligen Kopisten im Editionstext reinigt. Trotzdem ist aber selbst dieses durch eine Dokumentation im Revisionsbericht nachvollziehbare Vorgehen subjektiven Einschätzungen unterworfen. Insofern sei dem Benutzer dieser Edition ausdrücklich empfohlen, den ausführlichen Revisionsbericht auch zu nutzen. Man darf von dieser Edition nicht erwarten, dass sie die zahlreichen spieltechnischen und musikalischen Ungereimtheiten der vorhandenen Quellentexte eliminieren kann. Denn zum einen hat sich die betreffende Quellenlage in der letzten Zeit so gut wie gar nicht verändert, zum anderen steht jeder Interpret des Buxtehudischen Œuvres auch weiterhin vor der Entscheidung, viele musikalisch „unlogisch“ überlieferte Passagen einer kritischen Überprüfung und einer eventuellen Veränderung ihrer Wiedergabe auf der Orgel zu unterwerfen. Hier seien pars pro toto die Takte 114-51 des Praeludiums in e BuxWV 142, die Takte 64-65 der Toccata in F BuxWV 156 oder die Takte 21-22 der Choralbearbeitung Nun freut euch, lieben Christen g’mein BuxWV 210 in Bezug auf deren jeweilige Pedal- bzw. Manualzuweisungen genannt. Ein weiteres Beispiel ist das auf die Takte 116-19 der Choral­bearbeitung Te Deum laudamus BuxWV 218 fällige, nicht ergänzte Echo. Auch die Frage, wie ein Teil einer Satzfolge eines Stücks – meist mit veränderter Registrierung – an den vorangegangenen anzuschließen ist, kann ein Editionstext nicht beantworten. Andererseits wurden
z. B. die Takte 13-14 und 17a-17b der Toccata in F BuxWV 157 weit plausibler in Sechzehnteln statt in Zweiunddreißigsteln dargestellt.
Eine zweite, in ihrer Auswirkung recht innovative Editionsrichtlinie besteht darin, im Editionstext die Vox ipsissima eines jeden Werks he­rauszuarbeiten. Diese Formulierung scheint ebenso missverständlich wie subjektivistisch, deren wissenschaftlicher Ansatz ist aber im Kapitel „Editionspraxis“ des Revisionsberichts näher erläutert. Damit ist nichts anderes gemeint als die Absicht, den Notentext dem Erscheinungsbild der in norddeutscher Orgeltabulatur aufgezeichneten ver­lorenen Autografe und nur als zeitgenössische Abschriften erhaltenen Orgelwerke Buxtehudes anzunähern. Hierbei fallen nicht nur die Notation von punktierten Gruppen kleinerer Notenwerte als nicht gebalkte Stielnoten und das Nicht-Durchziehen der Balken bei Notengruppen, die aus Sechzehnteln und Zweiunddreißigsteln bestehen, ins Auge, sondern auch die gegenüber anderen Ausgaben gelegentlich in Halbe augmentierten Notenwerte von im Tempus perfectum komponierten Passagen auf (z. B. die zweite Fuge des Praeludiums in d BuxWV 140). Die Taktstriche sind dieser Editionsrichtlinie entsprechend nicht durchgezogen, sondern gestrichelt. Laut Herausgeberin soll diese Gestaltung des Editionstextes den Bedürfnissen der inzwischen allgemein anerkannten historischen Aufführungspraxis entgegenkommen. Gedacht ist dabei daran, charakteris­tische rhythmische Strukturen wie z. B. Punktierungen im Editionstext optisch pointiert wiederzugeben.
Die vorliegende Ausgabe enthält die in verschiedenen älteren Ausgaben nicht vorhandene Canzonetta in a BuxWV 225. Andererseits fand das in die durch Josef Hedar besorgte Hansen-Edition aufgenommene Zwischenspiel zum Praelu­dium in A BuxWV 151 hier keine Berücksichtigung. Das ist zwar insofern korrekt, als dieser Satzteil aller Wahrscheinlichkeit nicht von Buxtehude stammt; es handelt sich aber hier um eine durchaus interessante Augmentation der Satzanlage zu diesem Praeludium.
Bei einigen Manualiter-Stücken der Ausgabe ist eine Zuweisung auf die Orgel oder auf das Cembalo nicht eindeutig; der Interpret wird eine solche Entscheidung entsprechend der Satztechnik der betreffenden Stücke selbst treffen müssen.
Insgesamt ist diese Edition angesichts der früheren Ausgaben derselben Musik keineswegs überflüssig, sondern stellt eine willkommene Aktualisierung des Notentextes dar. Deshalb ist an dieser Stelle abschließend eine ausdrückliche Empfehlung zugunsten dieser Publika­tion auszusprechen.

Wolfram Syré