Böhm, Georg

Sämtliche Orgelwerke

hg. von Claudia Schumacher

Verlag/Label: Schott Music, ED 21679
erschienen in: organ 2014/03 , Seite 57
Man reibt sich angesichts des doch eher ungewöhnlichen Notenbildes, in dem sich die bestens vertrauten Werke hier präsentieren, verwundert die Augen. Grund dafür ist die tabulaturkonforme Notation. Somit sind Gruppierungen von Noten durch Balken extrem kleingliedrig gehalten und Taktstriche nur gestrichelt eingezeichnet. Hinter dieser Notation steht die These, dass diese Form des Schriftbildes „durchaus Auswirkungen auf die Artikulation, […] nämlich im Sinne einer mikroartikulatorischen, ,offeneren‘ Darstellung des Notierten“ habe. Dazu einige Überlegungen:
1. Dies ist eine (Hypo-) These, nicht mehr und nicht weniger. Man könnte anführen, dass der Spieler durch den optischen Eindruck des Notentextes suggestiv zu einer gewissen Gestaltung animiert wird. Ebenso mag man vielleicht bei Autografen unterstellen, dass sich der Komponist unbewusst zu einer gewissen Anordnung verleiten lässt, die Details seiner Klangvorstellung repräsentiert. Grundsätzlich sollte die Gestaltung der Artikulation sich wohl eher am Gehalt des Werks und an dokumentierten Gepflogenheiten der jeweiligen Epoche orientieren als an einem Schriftbild, das bei der ersten Abschrift möglicherweise be­reits hinfällig ist. 
2. Wenn man denn der Auffassung folgt, dass das Schriftbild eine Interpretation entscheidend beeinflusst, ist die folgerichtige Konsequenz, ein Faksimile der Tabulatur herauszugeben oder diese im Internet zugänglich zu machen. Dann stünde es jedem Spieler frei, gleich aus der Tabulatur zu spielen oder sich diese zum eigenen praktischen Spielgebrauch einzurichten. Die Übertragung in moderne Notenschrift stellt jedenfalls wiederum einen erheblichen Eingriff dar.
3. Weitere Überlegungen hierzu: Wie sähe es dann in Bachs Orgelbüchlein aus, wenn er aus Platzmangel den Schluss in Tabulatur notiert? Wäre hier etwa eine andere Artikulation zu wählen?
4. Von Böhm ist keine Tabulatur überliefert. Alle Abschriften aus dem mitteldeutschen Raum sind in moderner Notenschrift notiert, auch wenn es gute Gründe gibt anzunehmen, dass sie nach einer Tabulaturvorlage gefertigt sind. Hier eine tabulaturkonforme Notation zu rekonstruieren, stellt einen hohen Aufwand dar, der nach Ansicht des Rezensenten eine höchst zweifelhafte Information mit einem unübersichtlichen Notenbild erkauft. An den Faksimile-Seiten ist gut abzulesen, dass selbst seriöse Schreiber wie Johann Gottfried Walther in keiner Weise „tabulaturkonform“ notiert haben. Sollte sich in der Notengruppierung der Tabulatur eine wichtige Artikulationsinformation äußern, müsste man davon ausgehen, dass einem Schreiber des 18. Jahrhunderts das bekannt war und er in irgendeiner Weise versucht hätte, diese Information zu erhalten.
Zum optisch gewöhnungsbedürftigen Eindruck trägt auch der digitale Notensatz bei, der bei starker Steigung der Balken und dicht gedrängten Systemen ein unruhiges Bild vermittelt und kaum Platz für Fingersätze und andere Eintragungen lässt. Bei einer Notation in drei Zeilen erübrigen sich auch die Angaben „man.“ und „ped.“; sie belas­ten den Notentext nur. Die verzierten Fassungen z. B. von Vater unser im Himmelreich stellen ein interessantes Dokument zur Aufführungspraxis dar.
 
Axel Wilberg