Roland Maria Stangier – English Town Hall Organ. Philharmonie Duisburg

Werke von Gustav Holst, Georg Friedrich Händel, Louis Vierne, Frank Bridge, Edward Elgar, César Auguste Franck, Roland Maria Stangier und Zsolt Gárdonyi

Verlag/Label: Acousence ACD-CD 10710 (2010)
erschienen in: organ 2011/03 , Seite 52

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Welche Tonkonserve hält heute noch einen nachhaltigen Erkenntniszugewinn für den Hörer bereit, kann gar – vergleichbar einem guten Buch – zu einem Lebens(abschnitts)-Begleiter werden …?  Zumeist begegnet sattsam bekanntes Standardrepertoire, technisch zwar (schnitt-) rein, gestalterisch-interpretatorisch aber profillos. Die vorliegende CD hätte die besten Voraussetzungen gehabt, Neues, vielleicht gar Auf­regendes in die audiophile (germanophone) Orgelwelt zu entsenden: nämlich das erste angeblich konsequent nach dem Vorbild einer englischen Konzertsaalorgel erbaute Instrument auf deutschem Boden (aus der renommierten Bautzener Orgelbauwerkstatt Hermann Eule), ein recht ansprechendes, weil „gefälliges“ Repertoire, und nicht zuletzt ein Interpret, der sicherlich nicht zu den unbekannteren seiner Generation hierzulande zählt.
Nun, diese CD ist aufregend, allerdings nicht im positiven Sinne, weil sie etwa atemberaubende Musik auf einem First-Class-Instrument in beispielloser Darbietung bereithält. Nein, diese Scheibe regt schlichtweg nur auf, weil hier am Ende so gar nichts zusammenstimmen will. Mit anderen Worten: Handelte es sich hier im konkreten Falle nicht um ein zum Zwecke der Rezension übersandtes Besprechungsexemplar, es wäre wohl den „deutschen“ Königsweg des Recyclings gegangen.
Was nötigte den Interpreten, auf diesem vorgeblich „britischsten“ aller kontinentalen Konzertsaalinstrumente, und zudem in der staubtrockenen Akustik der Duisburger Mercatorhalle, zum x-ten Male die beiden Vierne-Ohrwürmer Claire de lune und Carillon de Westmins­ter einzuspielen? Was auf seine je eigene Art als farbenreiches Tongemälde im Sinne symphonischer (französischer!) Kathedralmusik ge­dacht war, mutiert auf dieser Aufnahme zur dünnstrichig-minima­listischen Bleistiftskizze.
Passender scheinen da auf den ers­ten Blick schon die dem angelsächsischen Kontext entstammenden Stü­cke von Gustav Holst, Frank Bridge und Edward Elgar. Doch auch hier wieder weitgehend Enttäuschung: Stangiers eigene Orgelfassung von Holsts Jupiter hält den Vergleich zu längst existierenden Arrangements von Arthur Wills oder gar Peter Sykes kaum stand. Und warum nur spielt er Elgars berühmte „Nimrod“-Variation aus op. 36 in seiner eigenen Adap­tion nach der Klavierfassung (!) des Komponisten? Passender wäre es gewesen, gemäß dem am Beginn des Booklettexts zitierten Satz von Herbert Ellingford* (Peter Sykes Anmerkungen zur Planeten-Einspielung von 1996 lassen verdächtig grüßen) auf die bis heute im angelsächsischen Raum gebräuchliche, durch und durch orgelgemäße Fassung von A. H. Harris zurückzugreifen.
Den Gipfel teutonischer Attitüde (oder ist es schlicht die pure Unkenntnis?) erreicht diese CD mit der eigenwillig-skurrilen Deutung des bezaubernden Adagio in E von Frank Bridge. Dieses Stück in die Nähe von Samuel Barbers Adagio for Strings zu rücken, erscheint wenig plausibel, zumal Stangier die fulminante Wirkung dieser spät­romantischen Preziose durch die klangliche Beschränkung auf Streicher und Flöten dem Hörer im Wesentlichen vorenthält. Obwohl von Haus aus Geiger, intendierte Bridge mit diesem Stück keinen Streichersatz à la Barber, sondern hatte die Gravität des königlichen Instruments im Visier, zumal die ungemein dynamische Bandbreite der „pompichten“ englischen Orgel. Oder hätten etwa ganze Generationen (namhafter) angelsächsischer OrganistInnen dieses Stück am Ende völlig missdeutet? Störend nimmt sich zudem auch die agogische Manieriertheit des Spielers im Verlauf des Stücks aus.
Angesichts der vorliegenden Einspielung ein halbwegs gerechtes Urteil über das neue Duisburger Konzertinstrument zu fällen, ist ob des hier Dargebotenen ein recht diffiziles und heikles Unterfangen. Mag man auch über interpretato­rische Auffassungen streiten, aber selbst die Improvisationen zur Präsentation der einzelnen Registergruppen kommen doch recht blässlich und einfallslos-gestelzt daher. Primär wäre zu fragen, was an dem neuen Instrument von Eule denn nun tatsächlich ganz unverwechselbar „englisch“ ist? Die offenen Sechzehnfüßer im Pedal sind für hiesige, deutsche Verhältnisse fraglos hervorragend gelungen, auch wenn sie am Ende gleichwohl nicht an die grandiosen „rollenden“ englischen „Teppiche“ der Open Woods und Open Diapasons heranreichen. Typisch deutsch hingegen klingen indessen die gedeckten Sechzehnfuß-Stimmen, die, ehe sie den Grundton erreichen – und dies insbesondere in leisen Passagen –, mit ihrer vergleichsweise harten Ansprache den „orchestralen“ Gesamteindruck trüben. Im Piano-Bereich vernimmt man ab und an aparte Flöten oder charakteristisch-schneidende Streicherfarben, während die Prinzipale etwas „muffig“ daherkommen. Absolut deutsch wiederum klingen die Mixturen. Letztlich kommt der kundig-kritische Hörer anhand der  vorliegenden Aufnahme zu dem Ergebnis, dass das fraglos Englischste an diesem Instrument seine prätentiöse Intitulierung als „English Town Hall Organ“ ist. Mag der eine oder andere Detailaspekt im Sinne der ehrwürdigen englischen Town-Hall-Organ-Tradition auch gelungen erscheinen, das Ganze ist zuletzt doch immer mehr als die Addition seiner Einzelteile …!
Das immer wieder zu Recht ge­rühmte, betörende Timbre jener Instrumente im authentischen (viktorianischen) Umfeld will oder kann sich bei diesem Nachbau, zumal im diesbezüglich gänzlich ambitionslosen architektonischen Kontext der 1970er Jahre, in Duisburg nicht einstellen. Geist und Seele dieser singulären instrumententypischen Errungenschaft der angelsächsischen Musikkultur lassen sich eben nicht mit einer handvoll orgelkundlicher Studienreisen soweit erschöpfend erfassen und aneignen, dass man sie so einfach in ein vielfach gegensätzliches soziokulturelles Umfeld verpflanzen könnte.
Wolfgang Valerius

* „Als Hauptziel sollte angestrebt werden, für Orgel arrangierte Musik so zum Klingen zu bringen, als wäre sie original für Orgel geschrieben worden.“