Muffat, Gottlieb (1690-1770)
Ricercate Canzoni Toccate & Capricci
Orgelmusik aus dem Archiv der Minoriten in Wien
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Gottlieb Muffat steht als Orgelkomponist heute ohne Zweifel ganz und gar im Schatten seines berühmten Vaters Georg. Dies etwa zu Unrecht? Immerhin umfasst die vorliegende Aufnahme zahlreiche kürzlich erst edierte oder bislang einzig in Manuskripten vorliegende Werke. Im Gegensatz zu den bekannten zwölf Toccaten und 72 Versetten ließe sich hier von größeren Werken sprechen, wobei keines für sich jedoch die Spieldauer von fünf Minuten deutlich überschreitet. Im CD-Booklet ist u. a. ein Interview mit dem Interpreten nachzulesen, in dem dieser nachdrücklich die Bedeutung Muffats für die Fortentwicklung des vermischten Stils betont, für den Georg Muffat in seinem Apparatus die Grundlagen legte. Bei seinem Sohn ist ohne Zweifel weniger ein Nebeneinander der italienischen und französischen Elemente zu finden als vielmehr deren Durchdringung. Muffats Tätigkeit bei Hofe bescherte ihm zu Lebzeiten angemessene Reputation, auch Händel besaß Muffats Clavierwerke, eine wechselseitige Beeinflussung ist durchaus wahrscheinlich.
Was die kontinuierliche Rezeptionsverweigerung angeht, verwundert es in der Tat, dass nicht schon früher Neuausgaben oder Faksimiles erschienen sind, immerhin äußerte sich schon Frotscher in seiner Geschichte des Orgelspiels anerkennend über Gottlieb Muffats Werke.
Somit stellt die vorliegende Aufnahme eine begrüßenswerte Bereicherung eines vernachlässigten Repertoirezweigs dar. Label und Interpret haben bei der ansprechend ausgestatteten CD wenig Mühen gescheut. Die Aufnahmetechnik bietet ein warmes, am Raumeindruck orientiertes Klangbild. Über die Qualitäten der Sieber-Orgel muss zudem wohl kaum ein Wort verloren werden. Pier Damiano Peretti spielt ausgesprochen geschmackvoll und souverän. Die zahlreichen Verzierungen gelingen ihm mit bemerkenswerter Selbstverständlichkeit, ohne den Spielfluss zu hemmen. Die dramatischen harmonischen Finessen (verminderte Septakkorde) bewegen sich auf der Höhe der damaligen Zeit und werden von Peretti mit dezenter Agogik im Sinne eines affektorientierten Spiels hervorgehoben. Die einzelnen Stücke sind sinnfällig in tonartlich aufeinander bezogenen Gruppen zusammengefasst. Was die Registrierungen angeht, bietet Peretti durchaus Unerhörtes: Unter häufiger Benutzung der Manualkoppeln stellt er aparte Klänge zusammen, die diesem galanten Stil zu Gesichte stehen.
Alles in allem eine hervorragende Produktion. Trotzdem bleibt am Ende eine Frage: Ein maßlos (!) unterschätzter Komponist? Hier mag jeder sein eigenes Urteil fällen; die CD liefert dazu reichlich Anschauungsmaterial. Der Rezensent gesteht in diesem Punkt seine bleibende Skepsis ein. In summa wirken die Zusammenstellungen doch recht kleingliedrig und finden kaum zu größeren Einheiten wie im Falle der großangelegten Toccaten des Vaters. Manchem Stück fehlt trotz satztechnischer Finesse schlicht der geniale Einfall, so dass auf die Dauer bei dieser Art von Orgelmusik doch eine gewisse Ermüdung beim Hörer eintritt.
Axel Wilberg