Reuchsel

Gesamteinspielung aller Werke für Orgel der Familie Reuchsel (Léon, Amédée, Maurice und Eugène Reuchsel), Volume 1–3

Verlag/Label: Edition Lade CD 056/057/058
erschienen in: organ 2016/04 , Seite 59

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Eugène Reuchsel (1900–88) ist wohl einer größeren Zahl von Organis­ten und Orgelmusikenthusiasten ein Begriff, zumal seine Werke zumeist in gedruckte Ausgaben und Einspielungen greifbar sind. Doch von den vorausgehenden Generationen seiner Familie ist musikalisch kaum etwas bekannt. Dies wird sich durch die vorliegende aufwändige Produktion aus dem Hause Lade in Zukunft (hoffentlich!) ändern.
1825 wanderte der 1791 im thüringischen Bettenhausen geborene Jean Reuchsel (vorher Johann Reuschel) ins Burgundische aus und gründete er dort mit seiner fran­zösischen Frau eine weit verzweigte Musikerfamilie. Später siedelte man nach Lyon um, woraufhin die dortige musikalische Landschaft von dieser Dynastie mitgeprägt wurde. Die berufliche Laufbahn seiner sieben Kinder hatte Bezug zur Musik, und besonders der 1840 geborene Léon Reuchsel ist als Dirigent und Komponist hervorge­treten und hat eine kleinere, aber aparte, durchaus originelle Sammlung von liturgischen Stücken herausgebracht. Die Klein­odien sind für Orgel oder Harmonium geschrieben und erinnern an César Francks Sammlung L’Organiste.
Den Hauptteil von Volume 1  beansprucht jedoch die großartige Orgelkunst seines 1875 geborenen Sohnes Amédée Reuchsel (1875–1931). Sie beginnen mit den 1919 erschienenen, äußerst interessanten Dix Pièces Nouvelles op. 180. Die mitreißenden, farbenreichen und anspruchsvollen Charak­ter­­stü­cke demonstrieren Amédée Reuch­sels vielseitige kompositorische Meisterschaft und stehen den Werken seiner ungleich bekannteren Zeitgenossen Widor und Guilmant in nichts nach.
Genauso die großartige Sonate No. 1 in f-Moll, die ihre wahrhaft symphonischen und durchaus virtuosen Züge nicht verleugnet. Die Sonate No. 2 in e-Moll stammt aus den Jahren 1911/12 und ist Théodore Dubois gewidmet. Der letzte Satz ist bemerkenswert: Reuchsel verwendet hier den (Lutherischen) Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“ als Choralsatz, Choralfuge und Variation im historisierendem Stil – eine Hommage an seine thüringischen Vorfahren?
Amédée Reuchsel studierte u. a. bei Alphonse Mailly am Brüsseler Konservatorium und Gabriel Fauré in Paris und war Organist an verschiedenen Kirchen in Lyon und Paris. Er verfasste neben Orgel- und Chormusik zahlreiche Lieder, zu seiner Zeit viel gespielte Kammermusik sowie Orchesterwerke, eine Oper und musikdidaktische Lehrwerke. Von stilistischer Erinnerung an vergangene Zeiten künden auch das archaisierende Prélude Gotique, von seinem kontrapunktischen Können weitere kürzere Werke. Die Sonate No. 3 in D-Dur, Eugène Gigout zugeeignet, beschließt großformatig in Werkaufbau und musikalische Spannungsbogen den gewichtigen Zyklus der Sonaten. Ähnlich wie Widors Bachs Memento bringt Amé­dées Fragments d’Oratorio neben Übertragungen von Musik Händels und Mendelssohns drei vereinfachte und gekürzte Transkriptionen aus Bachs Matthäuspassion. Amédée Reuch­sels Orgelwerk ist übrigens in Reprints erhältlich!
Amédées jüngerer Bruder Maurice (1880–1968) studierte zuerst in Paris Violine, um dann zurück in Lyon als Organist, Publizist, Konzertveranstalter und Komponist vor allem für Kammerensembles und Orchester zu wirken. Seine Orgelmusikproduktion stellt sich auf sehr hohem Niveau dar, doch sie ist bedauerlicherweise von nur geringem Umfang.
Auf der dritten CD folgen Werke des letzten großen musikalischen Repräsentanten der Familie Reuchsel. Eugène Reuchsel, 1900 als Sohn von Amédée in Lyon geboren, wurde schon mit 16 Jahren als Pianist am Pariser Conservatoire höchst dekoriert, arbeitete eng mit Ferruccio Busoni zusammen und gab Klavierkonzerte auf der ganzen Welt. Sein Bouquet de France, eine farbenreiche und berückende Volksliedersuite, steht in der Tradition einschlägiger Werke von Vincent d’Indy, Maurice Emmanuel und Joseph Canteloube. Eugène Reuchsels Tonsprache ist tonal, mit vielen Mixtur-, Ajoutée-Klängen und har­monischen Rü­ckungen durchsetzt – man könnte sie als neo-impressionistisch bezeichnen. Die Satzweise ist pianis­tisch-virtuos und kompakt, viele Tricks und Effekte hat er von seinem Vater, das bemerkt man besonders bei dessen Opus 180.
Manfred Meier-Appel hat sich in vorbildlicher Weise der Musik der Reuchsel-Familie angenommen, er bewältigt ihre Schwierigkeiten souverän und meistert klar und überlegt alle virtuosen Klippen. Der Ursprung der 2001/02 durch die Firma Thomas Jann renovierten und umgebauten Stahlhuth-Orgel geht auf das Jahr 1912 zurück. Sie wurde damals schon in europäisch-symphonischem Stil konzipiert, d. h. sie verband deutsch-romantische Einflüsse mit Strömungen aus Frankreich und England. Mit 45 Regis­tern auf pneumatischer Kegellade hatte sie eine breite Palette deutscher Grundstimmen und zwei Starktonregister. Einige Zungen aus einer Pariser Pfeifenmanufaktur und – als Anglizismus – eine Hochdrucktuba waren verteilt auf Hauptwerk, schwellbares Positiv, Schwellwerk und Pedal. Nach einer in den 1960er Jahren üblichen Neobarockisierung wurde das Instrument renoviert, die originalen Register wieder hergestellt bzw. rekonstruiert, Schwellwerke und Technik erneuert, die Veränderungen aus den 1960ern rückgängig gemacht mit elektropneumatischer Traktur im europäisch-symphonischen Sinne und mit einem Chamadewerk auf 78 Register vergrößert.
Manfred Meiner-Appel präsentiert die Orgel in adäquater Weise und registriert wie von den Komponisten vorgeschrieben. Durch die relativ starken Grundstimmen, die diskantbetonte Kegellade, ebenso die Oboe und die sehr lauten Pedalzungen lassen sich manchmal Details in den unteren Stimmen nicht optimal verfolgen. Man kann den enzyklopädischen und künstlerischen Wert dieser Aufnahme (es sind noch drei weitere CDs mit Werken Eugène Reuchsels vorgesehen) gar nicht hoch genug schätzen: Der musikalische Einsatz von Meier-Appel, die zum Teil immens virtuosen Werke darzustellen, die vorbildliche Book­let-Gestaltung (dt.-engl.-frz.) mit bestens recherchierten Texten (von Manfred Meier-Appel über die einzelnen Werke) und eine hervorragende Bildauswahl machen die drei CDs zu einer wahren Perle und lassen auf baldige Verwirklichung der weiteren drei Teile hoffen. Sehr empfehlenswert!   

Stefan Kagl